KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 15. Dezember 2011, 11:21
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Kautskys Nachtgesang. Materialien zur Entstehung

280. Kolumne


Ulrich Bergmann

Material
zu „Kautskys Nachtgesang“ 5./6. Oktober 2000

Dorotheenstädtischer Friedhof: Heiner Müllers Grab.
Arnold Zweig. Anna Seghers. Eisler. Paul Dessau. Ruth Berghaus. Bert Brecht.
Helene Weigel. Johannes R. Becher. Wieland Herzfelde. John Heartfield.
Jürgen Kuczinski. Rudolf Bahro.
Heinrich Mann. Hegel.
Bernhard Minetti.

[Johannes R. Becher:]
Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt, /
Laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland. /
Alte Not gilt es zu zwingen, / Und wir zwingen sie vereint, /
Denn es muß uns doch gelingen, / Daß die Sonne schön wie nie /
Über Deutschland scheint.
... Reicht den Völkern eure Hand / Wenn wir brüderlich uns einen /
Schlagen wir des Volkes Feind. ---

Gedenke, Deutschland, deines Freunds, des besten.
O danke Stalin, keiner war wie er
So tief verwandt dir, Osten ist und Westen
In ihm vereint. Er überquert das Meer, /
Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke,
Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn
Dem Mann, der Stalin heißt, denn dein Gedanke
Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.

[Max Zimmering:]
Stalin ist tot! / Doch sagt: / Kann Stalin sterben? / Lebt er nicht fort als unbegrenzte Kraft, /
als Sehnsucht, / Willen, / Arbeit, / Wissenschaft, / in der Partei -

[Hymne der Sowjetunion:]
O Sonne der Freiheit durch Wetter und Wolke!
Von Lenin, dem Großen, ward Licht unsrem Pfad.
Und Stalin erzog uns zur Treue dem Volke,
beseelt uns zum Schaffen, zur heldischen Tat.
Kehrreim: Ruhm sei und Lobgesang dir...

[„Matrosen von Kronstadt“, 1917:]
Ver-ron-nen die Nacht und der Mor-gen er-wacht: Ro-te Flot-te mit Voll-dampf vo-raus!
In Stür-men und To-sen, wir ro-ten Ma-tro-sen, wir fah-ren als Vor-hut hi-naus.
Vor-wärts, an Ge-schüt-zen und Ge-weh-ren, auf Schif-fen, in Fa-bri-ken und im Schacht.
Tragt ü-ber den Erd-ball, tragt ü-ber die Mee-re die Fah-ne der Ar-bei-ter-macht.
...Noch tra-gen die Völ-ker des Wes-tens die Ket-ten, noch hül-len die Wol-ken das Recht.
Doch ro-te Fah-nen we-hen, auch dort wird er-ste-hen Po-tem-kin, der Kreu-zer, zum Ge-fecht.
...Mag der Sturm uns zer-sau-sen, die Wel-len, sie brau-sen, die ro-te Flut, sie steigt an!
Vor-wärts, So-zia-lis-ten, zum End-kampf wir rüs-ten! Die ro-te Ma-ri-ne vo-ran!

[Baikal-Lied:]
Herr-li-cher Bai-kal, du hei-li-ges Meer, auf ei-ner Lachs-ton-ne will ich dich zwin-gen!
Schar-fer Nord-ost treibt die Wel-len da-her, Ret-tung, sie muß mir ge-lin-gen! -
Jah-re-lang schleppt’ ich die Ket-te am Bein, fern in Si-bi-ri-ens eis-kal-ten Ber-gen,
bis ei-nes Tags es ge-lang zu be-frein mich von den Ket-ten und Scher-gen.

[Kolchosenlied:]
O du frei-es, fröh-li-ches Le-ben! Was kann es noch Schö-ne-res ge-ben?
Ja, uns lehrt Ge-nos-se Sta-lin, daß die Ar-beit Wun-der tut.
Unser Kol-chos kämpf-te wa-cker wie ein Mann um je-des Pud.
...O du frei-es ...
Macht den Weg frei den Trak-to-ren! Frei-e Bahn den Sie-gern schafft!
Sta-lin gab die gro-ße Lo-sung: Für die Ern-te al-le Kraft!
... O du frei-es...
Die Bri-ga-de führt mein Liebs-ter, und auch ich steh’ nicht zu-rück.
Mei-ner Grup-pe Stolz: drei Nor-men täg-lich für der Hei-mat Glück.

[„Brüder, zur Sonne“:] - vielleicht mit dem Ikarus-Motiv verbinden
Brü-der zur Son-ne, zur Frei-heit! Brüder zum Lichte, zum Lichte empor!
Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor! -
Seht, wie der Zug von Mill-jonen endlos aus Nächtigem quillt,
bis eurer Sehnsucht Verlangen Himmel und Nacht überschwillt! -
Brüder, in eins nun die Hände! Brüder, das Sterben verlacht!
Ewig der Knechtschaft ein Ende, heilig die letzte Schlacht! -
(Brechet das Joch der Tyrannen, das euch so grausam gequält,
Schwenket die blutroten Fahnen über die Arbeiterwelt.)
(...) wird im gemeinsamen Gesang nicht mitgesungen



An

GEGNER
BasisDruck Verlag
Schliemannstraße 23
10437 Berlin


27.5.2001


Die Anregung zu der Heiner-Müller-Geschichte verdanke ich Holger Benkel. Ich schickte sie an HEL, der mir erzählte, Martin Pohl hätte einst vorgehabt, auch so eine Geschichte zu schreiben. Dem schickte ich meine erste Fassung, er antwortete:

„Als HEL und ich einmal um die Wendezeit herum über den Dorotheenstädtischen Friedhof gingen, äußerte ich wohl beiläufig mal den Gedanken an einen literarischen Text, in dem die berühmten Toten dieses Friedhofs miteinander kommunizierten über die ‘Neue Zeit’ - bekanntlich eines der Lieblingsthemen Brechts. Bei dem Gedanken blieb es dann auch; mein Freund Heiner Müller lebte damals noch (der übrigens Zigarren rauchte!). Nach Müllers Tod habe ich meine Erinnerungen an ihn aufgeschrieben und 1996 in der Berliner Wochenzeitung ‘Freitag’ publiziert. Diese freilich haben mit Ihrem Text, über den ich mich nicht äußern möchte, so gut wie nichts zu tun. Wenn Sie es wünschen, schicke ich Ihnen Ihre Geschichte zurück. Besten Gruß Ihr MPohl“

Aha.
MP findet seinen HM nicht in meiner Geschichte.

„Lieber Martin Pohl, vielen Dank für die Zigarre!
Ich habe meine Geschichte vom Dorotheenstädtischen Friedhof korrigiert und Heiner Müller von der Zigarette befreit. Interessant, dass weder HEL noch Holger Benkel oder andere Liebhaber Heiner Müllers, außer Ihnen, meinen Zigarettenirrtum bemerkten. Wahrscheinlich alle Nichtraucher. Ich war dagegen ein schwerer Raucher, aber von Zigaretten, mein Leben im Westen hat mich verdorben, vielleicht sind das Gründe für meinen Fehler.“


Anm.:
Martin Pohl war (der einzige) Meisterschüler Brechts am Berliner Ensemble. Er schrieb Lyrik, Filmdreh-bücher, kleine Theaterstücke; nach Brechts Tod wenig Erfolg, weder Anpassung noch Widerstand in der DDR, Suff, Armut, Alter... So lebt er dahin, schreibt heute immer wieder mal ein Gedicht.

Ulrich Bergmann

Kautskys Nachtgesang (1. Fassung 9.10.2000)

Kautsky, dem im Leben die Vorbilder ausgingen, weil es einfach keine mehr gab und weil er immer deutlicher sah, dass er nun selber dran war Vorbild zu sein, zog es manchmal, in seiner Einsamkeit mit sich selbst, mitten in der Nacht hinaus zu Überlebenswanderungen, wie er es nannte, zu abenteuerlichen Streifzügen seiner Seele durch die Stadt, wo er erlebte, was tagsüber unmöglich geschehen konnte.

Einmal, es war im Oktober, zehn Jahre nach der Wende, zog es ihn zu den Gräbern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wo die alten Vorbilder lagen, die er verehrte, denen er nachzustreben sich immer bemühte, wenn auch mit wenig Erfolg, die ihm aber im Tagleben fehlten und deren Geist ihm nun endgültig verraten schien, seit die Menschheit, im Taumel trügerischer Wiedervereinigung, weltweit von der kapitalistischen Weltevolution beherrscht wurde.
Da wollte er, wenigstens auf der Nachtseite seines Lebens, mit dem Geist der vergangenen Zeit sich unterhalten, um sich für härtere Tage zu stärken. Ihm war klar, dass seine Vorbilder vom Lauf der Geschichte überwunden waren, dass sie nun unter der Erde lagen, und dass sein Gang über den Friedhof praktisch nutzlos war. Sollte er die Toten ausgraben, die nicht mehr reden konnten? Aber da war immer noch das Bewusstsein aus den wenigen glücklichen Kindertagen in ihm, als er Mark Twains „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ gelesen hatte, unauslöschlich die Vollmondnacht, in der Tom und Huck sich bei den Gräbern eine Innenwelt erschufen, wie nur Kinder oder bedeutende Künstler dazu die Macht haben.

Kautsky betrat den Friedhof, als wäre er dort zu Hause. Er fühlte sich wieder jung. Oben schien der Vollmond auf die Gräber. Er stand im Zenit der Nacht. Es war so hell, dass die Inschriften auf den Grabsteinen lesbar waren. Wie ein aufgeschlagenes Buch!, dachte Kautsky, ich will mit dem Buch reden.
Bertolt Brechts Grab war die erste Station, zu der er ging. Überall wucherten Gras und Unkraut. Kleine Büsche, kleine Bäume standen auf der Schädelstätte umher. Ein leichter Wind zog durch die Zweige, die Blätter murmelten leise. Kautsky dachte schon, die Stimmen der toten Geister zu hören. Er war ganz allein, ihm fehlte in dieser Lage ein guter Freund, der ihm Sicherheit gab. Viele der alten Gräber lagen etwas eingesunken da. Groß und prachtvoll die einen; arm und bescheiden die andern. Aber die Größe der Gräber verriet nicht, wie groß die Toten im Leben waren. Kautsky fand rasch das einfache Grab des guten Menschen, den er suchte. Dort stand er schweigend. Endlos dehnte sich die Zeit. Immer drückender wurden seine Gedanken. Er musste etwas sagen. Er fragte sich, ob ihn die toten Seelen hören, wenn er redet. Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn man über die toten Leute da unten redet, dachte er. Fürchte dich doch nicht allzusehr! Sprich einfach! - Er hatte trotz der Fremdheit der Situation das Gefühl einer besonderen Vertrautheit mit den Bewohnern dieser Gräber, die ihren Grund in der heimlichen Begegnung fand, die er ersehnte. Formfragen sind außerhalb der Logik des Lebens absurd, sagte er sich. Ich will es versuchen.
„Freunde!“, rief er, „ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie!“
Aber die Gräber antworteten nicht. Brecht nicht, Helene Weigel nicht, Johannes R. Becher, ein paar Meter weiter, auch nicht.
Er stand traurig da und wartete. Es wollte auch in ihm selbst keine Antwort klingen. Was sind das auch für Fragen! Kautsky will die ganze Wahrheit, er will alles oder nichts. Als ob die klugen Toten wüssten, was die Lebenden brauchen! In der Totenwelt lebt es sich ganz anders als in der Welt der Lebenden, die Totenwelt ist für den Lebenden eine tote Welt, und für den Toten die lebendige Welt eine tote, denn die Gesetze der einen haben mit den Gesetzen der anderen nichts zu tun. Aber Kautsky wartete weiter, er dachte, er müsse in der anderen Welt wenigstens einmal anklopfen. Wer dort anklopft, sagte er sich, will durch die Tür ins eigene Leben.
Auf einmal hörte er einen leisen Gesang, dessen Quelle fernere Gräber in seinem Rücken sein mussten. Das waren die Gräber der jüngeren Toten. Die jungen Toten feierten, das wusste er, am lautesten, und sie freuten sich noch darüber, dass sie gestorben sind und aus dem bekannten Leben in ein anderes geworfen wurden. Kautsky drehte sich um und ging in die Spur der Töne hinein, bis er vor dem Grab Heiner Müllers stand. Eine einfache Stele trug seinen klein geschriebenen Namen und die Lebenszeit auf Erden.
Wir haben auch deine Vorschläge nicht angenommen, sagte Kautsky halbleise vor sich hin, als er auf die kleinen Steine auf der Spitze der Stele sein Steinchen zum Gedenken an den geliebten Dichter legte. Wie bei den Juden!, dachte er, die Steine beschweren das Fell über dem Toten im harten Steppengrab, damit die Wüstenwölfe ihn nicht schänden. Ein deutscher Kommunist, verfolgt und angespieen, konntest dich aber wehren und hast hart zurückgeschlagen, Waffen deine Worte!
Und nun erkannte er die Musik, der unter ihm tönte, immer besser, denn es waren viele Stimmen, die da sangen.

VER-RON-NEN DIE NACHT UND DER MOR-GEN ER-WACHT: RO-TE FLOT-TE MIT VOLL-DAMPF VOR-AUS!

Sie waren dort alle zusammen gekommen im Grabe Heiner Müllers, dachte Kautsky, auch Brecht, die Weigel und der Becher, Hans Eisler und Paul Dessau. Neben Müllers Grab erkannte er das Grab von Jürgen Kuczinski, nicht weit davon Bernhard Minetti, dann, etwas weiter weg, die Gräber von Arnold Zweig, Anna Seghers, Ruth Berghaus, Wieland Herzfelde und John Heartfield, dann auch Rudolf Bahro, und schließlich Heinrich Mann und Hegel. Irgendwie, dachte Kautsky, gehören die beiden als Sympathisanten einer neuen Weltkommune auch dazu, ohne Hegels Dialektik wären wir total aufgeschmissen.

TRAGT Ü-BER DEN ERD-BALL, TRAGT Ü-BER DIE MEE-RE DIE FAH-NE DER AR-BEI-TER-MACHT. . . NOCH TRA-GEN DIE VÖL-KER DES WES-TENS DIE KET-TEN, . . .

In diesem Moment begriff Kautsky den ganzen Dorotheenstädtischen Friedhof als eine einzigartige Katakombe der Kommunisten.
Er hörte nun, versunken in die eigene Vergangenheit, die alten Lieder, die ihn selbst geprägt hatten, „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, oder „Bau auf bau auf, bau auf bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf, für eine bessere Zukunft -“, und dann aus den Grüften:

HERR-LI-CHER BAI-KAL, DU HEI-LI-GES MEER, AUF EI-NER LACHS-TON-NE WILL ICH DICH ZWIN-GEN!

(Wie wunderbar, fühlte Kautsky, verbanden sich in solchen Versen Poesie und ideologischer Anspruch.)

SCHAR-FER NORD-OST TREIBT DIE WEL-LEN DA-HER, RET-TUNG, SIE MUSS MIR GE-LINGEN! - JAH-RE-LANG SCHLEPPT’ ICH DIE KETTE AM BEIN, FERN IN SI-BI-RI-ENS EIS-KAL-TEN BER-GEN . . .

(An dieser Stelle aber musste er an seinen Vater denken, den acht Jahre lange sowjetische Kriegsgefangenschaft verwundet hatte - aber daran hatte Hitler Schuld, Hitlerdeutschland, sagte er sich, die Rote Armee hat uns befreit! In Sibiriens eiskalten Bergen! Da musste er allerdings auch an den Archipel GULAG denken. Schwierige Lieder! Aber er sang innerlich mit, das waren die Lieder, die mit der späteren kommunistischen Knechtschaft nichts zu tun hatten, das waren noch die Lieder der Hoffnung auf eine bessere Welt, Lieder vom Sieg der Weltrevolution!)

Es ging noch gerade gut, als aus den Katakomben die Hymne der Sowjetunion dröhnte:

O SON-NE DER FREI-HEIT DURCH WET-TER UND WOL-KE!
VON LE-NIN, DEM GROS-SEN WARD LICHT UNSREM PFAD.
Obwohl, schwer fiel ihm schon das Mitsingen bei den Versen:
UND STA-LIN ER-ZOG UNS ZUR TREU-E DEM VOL-KE,
BE-SEELT UNS ZUM SCHAF-FEN, ZUR HEL-DISCHEN TAT.

Ihm war klar, das sind formelhafte Verse, man muss sie beim Singen umdenken ins richtig Gemeinte. Das war noch eine leichte Aufgabe dialektischen Denkens.

Aber plötzlich sangen die da unten richtig ketzerische Lieder aus überwunden geglaubter Zeit, er traute seinen Ohren nicht, als er das Kolchosenlied hörte:

. . . JA, UNS LEHRT GE-NOS-SE STA-LIN, DASS DIE AR-BEIT WUN-DER TUT.
UN-SER KOL-CHOS KÄMPF-TE WA-CKER WIE EIN MANN UM JE-DES PUD. . .

Kautsky fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt. Am Ersten Mai fuhr er wie die anderen Jungen Pioniere auf dem mit Maiglöckchen und Hammer-und-Zirkel-Fähnchen geschmückten Roller, das blaue Tuch um den Hals, durch die Straßen. Ihm fielen dann die Sirenen ein, die im März 1953 minutenlang heulten, als der Stählerne gestorben war.
„Gedenke, Deutschland, deines Freunds, des besten“, schrieb Becher bald darauf, „o danke Stalin, keiner war wie er so tief verwandt dir, Osten ist und Westen in ihm vereint. Er überquert das Meer, und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke, kein Feind ist stark genug, zu widerstehn dem Mann, der Stalin heißt, denn dein Gedanke wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.“
Aus der Tiefe klang das Kolchosenlied wieder herauf, das das freie, fröhliche Leben besang:

MACHT DEN WEG FREI DEN TRAK-TO-REN! FREI-E BAHN DEN SIE-GERN SCHAFFT!
STA-LIN GAB DIE GROS-SE LO-SUNG: FÜR DIE ERN-TE AL-LE KRAFT!

Der Mann, der gestorben war, war nicht mehr. Der Stahl, der die kommunistischen Völker verband, fehlte nun. Die Klage war groß.
„Stalin ist tot!“ , schrieb einer der vielen Staatsdichter. „Doch sagt: Kann Stalin sterben? Lebt er nicht fort als unbegrenzte Kraft, als Sehnsucht, Willen, Arbeit, Wissenschaft, in der Partei - ?“ Kautsky fragte sich das damals auch, wusste aber keine Antwort, seine Fragen waren die Fragen eines Kindes, das wenige Jahre später selber entstalinisiert wurde. Sie wuchsen alle in dem Bewusstsein auf, der Kommunismus müsse befreit werden von der Herrschaft der sturen Ideologen, der politischen Betonköpfe, die wieder in die Falle einer lebenssterilen Partei-Diktatur gegangen waren. An Chruschtschow hatte Kautsky nie geglaubt, Chruschtschow war der starke Mann, der die Augiasställe reinigte, mehr nicht. Aber an Dubcek und den Prager Frühling hatte er geglaubt, und später hoffte er, allerdings nicht frei von Zweifeln, Glasnost und Perestroika könnten die Idee noch einmal in die Wirklichkeit retten, aber da war der Beton in der SED zu hart, die Mauer zu hoch, der Stalinismus war irgendwie wieder zurückgekehrt. Daran ging der kommunistische deutsche Staat zu Grunde. Und nun sangen sie in der Tiefe der Katakomben solche garstigen Lieder! Kautsky verstand den Gesang der Toten nicht. Vielleicht sangen sie die Lieder unter ihrem Anführer Heiner Müller mit dem Galgenhumor, den nur die Toten begreifen. Vielleicht ist das die Ironie der Resignation, dachte er, eine Feier des Scheiterns, um dort weiterleben zu können, wo eine Revolution ohnehin sinnlos ist. Wer weiß. Es machte ihn jedenfalls noch trauriger.

In seiner Not, ganz auf sich allein gestellt, beginnt Kautsky nun selber zu singen. Leise summt er die Melodie, und dann, mit einem Male öffnet er weit seinen Mund und singt mit lauter klarer Stimme die schönste Hymne, die er weiß:

„Brü-der zur Son-ne, zur Frei-heit! Brü-der zum Lich-te, zum Lich-te em-por!
Hell aus dem dunk-len Ver-gang-nen leuch-tet die Zu-kunft her-vor!“

Ihm wurde es, mit den ersten Worten, die er heraussang aus seiner kalten Seele, wärmer. Ja! Fliegen!, dachte Kautsky. Ich bin Ikarus. Der melodische Bogen und der Rhythmus des Liedes ergriff seinen ganzen Körper, der sich nun selbst beherrschte, indem er sich frei sang, und Kautsky fing auf der Stelle an zu marschieren:

„Seht, wie der Zug von Mill-ionen end-los aus Näch-ti-gem quillt, . . . „

In diesem Moment begann der Boden unter seinem kleinen Marschtritt zu erzittern, er hörte, wie das Stampfen seines Schriites wuchs und wuchs, mit jedem Wort, mit jedem Ton wuchs die Kraft, Kautskys Erde wankte, der Himmel der Toten bebte . . .

„. . . bis eu-rer Sehn-sucht Ver-lan-gen Him-mel und Nacht ü-ber-schwillt!“

Kautsky erfuhr in dieser Nacht die Macht der Musik, sein Lied und die Welt der Toten wurden eins, Idee und Wirklichkeit verschmolzen miteinander, als er die Worte sang:

„Brü-der, in eins nun die Hän-de! Brü-der, das Ster-ben ver-lacht!“
Das war’s!
Der mächtige Gesang verstummte. Der Marschtritt der Millionen verhallte. Kautsky sang nicht mehr, er stand nun ebenfalls still. Er hatte die Toten erreicht, und die Toten verstanden ihn. ‘Ewig der Knechtschaft ein Ende, heilig die letzte Schlacht!’, sang er das Lied im Stillen zu Ende.
Der Mond, das spot light, schien auf Heiner Müllers Erde. Die vollkommene Stille durchbrach etwas Weißes. Aus dem Grab wuchs eine Zigarette. Kautsky wollte nicht glauben, dass sich hier ein Wunder ereignete. Zigaretten, die aus der Erde wachsen, wie aus dem Grab eines Heiligen!
Aber es war kein Wunder, jetzt wuchs auch der Kopf Heiner Müllers aus der Erde! Er hatte die Zigarette im Mundwinkel. „Gib mir Feuer!“, bat er.
Kautsky gab ihm Feuer. Heiner Müller nahm einen tiefen Zug. Die Zigarette glomm hell auf. Heiner Müller blies den Rauch zu einer kleinen Wolke in die sternklare Vollmondnacht. Eine kleine weiße Wolke. Kautsky fühlte sich auf einmal seltsam beobachtet, er sah sich um: Aus jedem Grab schien nun ein Licht, die Zigarettensterne leuchteten aus der Erde, ein umgekippter Himmel!

„Was nun?“, sagte Heiner Müller in die gleißende Stille hinein, „ich wünschte, ich wüsste die Wahrheit, die du suchst. Aber deine Wahrheit gibt es da oben nicht.“

Kautsky war enttäuscht.

„Die Erde überlasse ich den Engeln und den Spatzen. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Mein Drama findet nicht mehr statt. Ich spiele nicht mehr mit. Ich bin mein Gefangener. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.“

War das, wie manche sagten, der bessere Stalin, der da mit ihm sprach?

„Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn.“

„Wie klappt es denn da unten mit der Utopie?“, fragte Kautsky, der die Klage, die er hörte, auf die Welt bezog, in der er lebte.

„Es funktioniert!“, sagte Heiner Müller, „es funktioniert tatsächlich! Wir haben die Lösung hier unten gefunden.“ Mit diesen Worten durchstieß sein rechter Arm die Erde seines Grabes, er reichte Kautsky die Hand, der ergriff sie, und sie sangen nun beide den Vers, den Kautsky eben sang:

BRU-DER, IN EINS NUN DIE HÄN-DE! BRU-DER, DAS STER-BEN VER-LACHT!

Heiner Müller packt die Hand Kautskys immer fester. Er will ihn zu sich ziehen hinunter in sein Grab! Kautsky weiß einen Moment nicht, wie ihm geschieht. Er widersteht nicht. Er zögert.
Nein! sagte er. Ich muss fliegen. Ich bin Ikarus. Lieber falle ich von meinem Himmel als in eure Hölle!

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