KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 04. Februar 2015, 14:25
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Steigen und Fallen der Bilder - Kubin. Lyrik (43)

449. Kolumne


Wolfgang Kubin, Das neue Lied von der alten Verzweiflung. Bonn (Weidle Verlag) 2000


Der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin veröffentlichte im Jahr 2000 zwei wunderschöne Gedichte:


DAS NEUE LIED
VON DER ALTEN VERZWEIFLUNG

Bitte
keine Nachrichten mehr
von Krieg und Vertreibung.
Wir sind wehleidig genug.
Auch grundlos vergießen wir Tränen,
nicht allein bei Häutung, Schlachtung
oder Speisung der Zehntausend
mit eigenem Fleisch.

Bitte
nichts mehr von Todesspringern,
von Weltenbrand und Depression.
Wir ziehen das Nichts vor,
vor dem Leben und nach dem Tod,
vor dem Zweifel und nach der Verzweiflung.

Bitte
keine Fragen mehr nach Sinn und Verstand.
Ein Stein ist glücklicher,
eine Wolke und ihr Luftzug.

Wenn nicht ungeboren oder überlebt,
möchten zungenlos wir sein
ohne Auge und Ohr.

In poetischer Polemik wird der Eskapismus als Verdrängung des Lebens verurteilt.
Es ist indirekte, aber wirkungsvolle Anklage falschen Lebens. Das Gedicht schreit nach Analyse der Welt und ist ein Plädoyer für eine bessere Welt, um die wir bemüht sein sollen.


SCHLOSS WIEPERSDORF (S. 38) ist das andere, tiefere. Die Dichte der Bilder - in allen Versen! - ist überaus stark. Diese (Gedanken-)Bilder erzeugen ein Feld von Interpretationsmöglichkeiten zwischen Natur und Mensch, Leben und Tod.

SCHLOSS WIEPERSDORF
Für Yang Lian

Jeder Baum ist eine Uhr,
jedes Gras ein Spiegel.
Die Gräber wollen sommers gen Himmel,
sie fallen aufwärts
durch die Bilder
der ersten Stunde zu.

Die zum Himmel und durch die Zeit fallenden Gräber evozieren die ganze Geschichte eines Menschen, der in der Natur um ihn herum aufgehoben ist, und assoziieren sogar den Auferstehungsgedanken, die Überwindung des Todes, die allerdings nur gedanklich gelingt; das Gedicht ist frei von religiösem Glauben, denke ich. Melancholie, wie Joachim Sartorius sagt, ist nur ein Aspekt deines realistischen Sehens und Denkens. Dein poetisches Sehertum empfinde ich in diesem Gedicht als vollkommen frei von elegischen Spuren. Die Widmung für Yang Lian ist auch inhaltlich absolut passend (mal ganz abgesehen von biografischen Details: Wiepersdorf, Yang Lian). Die philosophierte Physik (das Aufwärtsfallen der Bilder zurück in die erste Stunde) erinnert mich an das großartige Gedicht Yang Lians, „Die Höhe des Traums“, wo die ewige Musik des Seins dem Tod entgegengestellt wird. Allerdings sieht Yang Lian in seinem tatsächlich eher elegischen Gedicht den Tod am Ende als Erlösung, die wir annehmen sollten.


Ulrich Bergmann, 4.2.2015

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(20.03.15)
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 FRP (20.03.15)
"Gedicht" Nr. 1 ist astreine Prosa, gar nichts von Lyrik.
Zu allem Überfluss besteht es inhaltlich aus
seit den Sechzigern tausendmal gekäuten
Phrasen. Ob hier wirklich Eskapismus verurteilt
wird (das macht sich ja auch oh-so-leicht,
und der Beifall ist gewiß), oder eine taoistische
Sicht des dem-Fluss-keinen-Widerstand-bieten
vielleicht sogar in Hassliebe einer-ach-so-
Betroffenheit entgegengestellt wird, ist mir
durchaus nicht so klar, wie es der Autor
vielleicht gerne jätte.
Das zweite hat etwas Lyrisches, aber Titel und
Inhalt bleiben mir ohne echte Verbindung.
Könnte Schloß Wiepersdorf, aber auch
Shaolin Kloster benannt sein, oder sonstwie.
Zeile 1 und 2 gar Behauptungen, der
Rest Herstellungen, die einem Sinologen
wohl immer nahe liegen.
Hauptsächlich ist es m. E. wohl der Name Kubin, der den
Erfolg macht . Jedenfalls aus meiner
völlig unwichtigen Sicht.

 Melodia (21.03.15)
Was gegen Sinologen?^^
Aber ja, man merkt, dass der Mann sich exzessiv mit China inklusive seiner Lyrik und Literatur befasst.

Sein Buch "Die chinesische Dichtkunst" kann ich nur empfehlen; wenn man sich mit chinesischer Lyrik und seiner Geschichte befassen möchte, was sicher nicht jedermann Sache ist.

LG
Graeculus (69)
(21.03.15)
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