KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 10. August 2015, 21:31
(bisher 1.088x aufgerufen)

Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte

469. Kolumne


Vom Geist des Konfuzius (Kong Fuzi) (551-479) und seiner Bedeutung in unserer Zeit soll die Rede sein. Seine Gedanken, die Mao Zedong in einer barbarischen Kulturrevolution auszulö- schen versuchte, um seine eigene Auffassung von Kommunismus durchzusetzen, haben bis heute überlebt – einerseits reduziert und verbogen als ideologisches Instrument der herrschenden Partei, an- dererseits in der Wissenschaft und in der Überlieferung des Volkes.
Die Lektüre der von dem Bonner Sinologen und Lyriker Wolfgang Kubin übersetzten spätkonfuzianischen Schriften ist fesselnd
(Das große Lernen, Maß und Mitte. Klassiker des chinesischen Denkens. Bd.1. Herder: Freiburg-Basel-Wien 2014). Die Schriften stammen aus dem Buch der Sitte (Liji) zur Song-Zeit (1190).
Übersetzung und Kommentare zeigen, wie Kubin mit älteren Forschungen oder anderen sinologischen Ansichten jongliert und sich überzeugend entscheidet, dies alles mit einer Leichtigkeit und Klarheit in der Vermittlung, die ich selten erlebe. Wo andere sich im Geäst wissenschaftlicher Überspanntheit verklettern (vor allem Germanisten aller Epochen), bringt Kubin die Dinge auf den Punkt, ohne ihre Komplexität zu übergehen.
Mich reizt es, diese chinesischen Schriften im Hinblick auf unsere geschichtliche Situation im 20. und 21. Jahrhundert zu erörtern. Manche der konfuzianischen Gedanken finden sich auch in eu- ropäischen Fürstenspiegeln oder politischen Testamenten, und so gibt es durchaus gute Möglichkeiten, mit der europäischen Seele China zu verstehen. Mir war das Land, schon als ich es erstmals betrat, nicht fremd. Mir behagt das chinesische Denken, wie ich es in der Poesie und in der Philosophie kennenlerne.
Die derzeit Herrschenden täten gut daran, sich an Daxue und Zhongyong zu orientieren, sowohl im Westen als auch in Russland und in China, wo man die sozialistische Lehre längst verraten hat.
Das soziale Gleichgewicht – in einer westlich-bürgerlichen De- mokratie wie in einer Volksdemokratie – hat viel zu tun mit dem, was die konfuzianische Lehre sagt, die so manche zeitlos gültige Gedanken und Maximen enthält.
Ich zeige an einigen besonders interessanten Stellen der Schrift Daxue (大学 = Das große Lernen) und Zhongyong (中庸 = Maß und Mitte) die zeitlose Relevanz konfuzianischen Denkens auf. Im ersten Beispiel geht es um das Verhältnis des Einzelnen zum Gemeinwesen.
Daxue, I.2:
Wenn im Altertum jemand dem lichten Charisma auf Erden zu Glanz verhelfen wollte, dann hat er erst sein Land regierungsfähig gemacht. Um solches zu tun, hat er zuerst sein Haus in Ordnung gebracht. Wünschte er sein Haus in Ordnung zu bringen, so hat er zunächst an sich selbst gearbeitet. Wollte er an sich selber arbeiten, so hat er vorerst seinen Geist ausgerichtet. Wünschte er seinen Geist auszurichten, so hat er erst Treue geübt. Um Treue zu üben, hat er erst sein Wissen erweitert. Die Erweiterung des Wissens lag für ihn in der Akzeptanz der Dinge (ge wu). Nahm er die Dinge an (wu ge), dann weitete sich sein Wissen. Weitete sich sein Wissen, dann übte er Treue. Übte er Treue, dann war sein Geist ausgerichtet, dann konnte er an sich arbeiten. Konnte er an sich arbeiten, so war sein Haus in Ordnung. War sein Haus in Ordnung, war das Land regierungsfähig. War das Land regierungsfähig, herrschte Frieden auf Erden.
Schon rein formal interessant ist die dialektische Gedankenführung in I.2 (auch die Spiegelung gewu/wu ge). Dieses Vorwärts-Rück-wärts-Laufen der Wenn-Dann-Gedankenkette unterstreicht die ein- fache Idee des sozialen kategorischen Imperativs. Alles hängt mit allem zusammen, jeder Einzelne steht in einem Kausalgefüge – erst wenn das kleine Einzelne stimmt, stimmt auch das große Ganze. Natürlich ist das ein Ideal, das immer wieder an den subjektiven Interessen vieler Einzelner scheitert. Wenigstens die politisch verantwortliche Elite – im kaiserlichen China der Adel und die hohen Beamten – sollte die Maxime eines idealen Gemeinwesens erfüllen.
Es ist offensichtlich, dass sich die derzeit herrschende Partei in China nicht an die konfuzianische Weisheit hält – das Haus der Partei, nur dem Namen nach kommunistisch, ist nicht in Ordnung: Korruption und Machtegoismus der führenden Elite wuchern von oben nach unten in die gesellschaftliche Basis, infiziert von solchen Vorbildern der Unvernunft. So überzogen, so leer an Werten tritt die hierarchische Ordnung in China auf! Sie kann sich nicht auf Konfuzius berufen: Die Diktatur der Partei unterdrückt die Freiheit für die notwendige Erweiterung des Wissens aller Einzelnen. Zwar meint Meister Kong hier primär den Adel, doch sollen die nachrangigen gesellschaftlichen Schichten sich nach den gleichen Werten richten. Die Partei schreibt vor, wie die Dinge zu sehen sind. Ideologisch starre Deutungshoheit vernichtet daher die Akzeptanz der Dinge (der Wirklichkeit), die im Fluss ist. Sie friert den Diskurs aller ein und verbiegt die Wirklichkeit. Das geht nur so lange gut, wie die Partei ausreichenden Wohlstand für die meisten sichern kann.
In den westlichen Demokratien scheint die Freiheit des Denkens einen wesentlich größeren Raum zu besitzen. Hier ist es nicht die politische Klasse, die die Erweiterung des Wissens behindert, denn sie kann sich die Entfremdung von der Wähler-Basis nicht leisten. Wohlstand, also das Funktionieren des kapitalistischen Wirtschaftssystems, entscheidet auch in den bürgerlichen Demokratien über die Stabilität des Gesellschaftssystems. Es kommt auf die ausgeglichene Balance der politischen und wirtschaftlichen Kräfte an. Im globalen Wettstreit sind die Systeme, die geistige Freiheit, Mündigkeit und Selbständigkeit fördern, dann überlegen, wenn der kapitalistische Egoismus hinreichend gezähmt werden.
Denkbar ist, dass das chinesische System diese Balance und die globale Wettbewerbsfähigkeit mit klaren hierarchischen Strukturen gewährleisten kann, wenn es wahrhaft konfuzianisch ausgestaltet wird, also geistige Freiheit auch von unten nach oben zulässt. Ein solches System könnte angesichts der gewaltigen ökologischen und demographischen Zukunftssorgen effizienter sein als die derzeitige Verfassung der westlichen Demokratie.
Daxue, III.2:
Im Buch der Lieder steht:
„Schau die Ufer des Qi, wie gewunden sie sind, schau den grünen Bambus, wie prächtig er gedeiht. Da ist ein feiner Herr,
sein Sinn steht ihm nach Schneiden und Schleifen, nach Schleifen und Polieren.
Ach, wie ernst, ach, wie weitherzig,
ach, wie licht, ach, wie schillernd.
Da ist ein feiner Herr, ach, wie unvergesslich.“
Sein Sinn steht ihm nach Schneiden und Schleifen, dies Gleichnis spricht von seiner Bildung. Sein Sinn steht ihm nach Schleifen und Polieren, dies Gleichnis spricht von seiner Ertüchtigung. Ach, wie ernst, ach, wie weitherzig, er nimmt sich in Acht. Ach, wie licht, ach, wie schillernd, er ist erhaben. Da ist ein feiner Herr, ach, wie unvergesslich. Dies spricht von seinem Charisma, das sich erfüllt, vom Guten, das sich vollendet. Unvergesslich ist er den Edelleuten (min).
Der spielerische Vortrag des Staunens in I.2 beeindruckt den Leser genauso wie die formale Dialektik, dem Yin und Yang entsprechend, in ihrem logischen Wiederholungsspiel (das Lied als vorangesteller Kommentar einer folgenden Sentenz) bei III.2. Der „feine Herr“ ist eingebettet in die Vollkommenheit der Natur. Er entspricht mit seiner gedanklichen Komplexität und Bildung den Windungen des Flusses, die auch für die Eleganz und Perfektion seiner Erziehung stehen. Die Bambus-Stauden gedeihen an einem derart fruchtbaren Ufer, das Denken des Junkers wirkt segensreich, unter seiner Führung gedeihen wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Formen, also Produktion und Wohlstand des Gemeinwesens. Schleifen und Polieren meint die Selbsterziehung, die Selbstdisziplin des Adligen zum Wohl des Ganzen. Wenn die Elite funktioniert, funktioniert auch das Staatswesen. Der hierarchische Gedanke (und das implizite Herrscherlob) dieser Ordnung wird im kommunistischen China übernommen von der Partei-Elite, die sich auf Marx, Engels und Mao Zedong beruft, und nicht auf Konfuzius. Die Lehre des Konfuzius begründet die Herrschaft der Elite nicht materialistisch, sondern postuliert eine moralisch legitimierte feudale Adelsherrschaft auf der Basis gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse – Besitz, Herkunft und Bildung –, während die kommunistische Partei zunächst von der Gleichheit aller ausging und eine volksdemokratische Herrschaft der Gleichen anstrebte.
Die neue Hierarchie unterschied sich strukturell in einem wesent- lichen Punkt nicht von der alten kaiserlichen, weil das Prinzip der Herrschaft von oben nach unten erhalten blieb (nach Lenin die provisorische Notwendigkeit einer „Diktatur des Proletariats“, bis die klassenlose Gesellschaft hergestellt ist). In dem Maße, wie das Ziel der klassenlosen Gesellschaft verblasst, reanimiert China Stück für Stück die wesentlichen Prinzipien des Kapitalismus, während sozialistische Reste schmelzen. Die Eliten der derzeitigen chinesischen Gesellschaft, Parteikader und Besitzende, sind den Eliten der Kaiserzeit möglicherweise an Effizienz überlegen, was Wirtschaft, Militär, Organisation des materiellen Fortschritts – und das Ausmaß der Korruption angeht. Was Moral, Gerechtigkeit und gar Freiheit angeht, so lässt sich leicht erkennen, dass die chinesische Gesellschaftsverfassung größere Defizite hat als die westliche Demokratie.
Zhongyong, I:
Die Bestimmung des Himmels heißt man nichts anderes als die Natur des Menschen. Was dessen Natur anleitet, heißt man das Tao. Was das Tao kultiviert, ist die Erziehung. ... Wenn Lust und Ärger, Freud und Leid noch nicht zum Ausdruck gekommen sind, so heißt man diesen Zustand die Mitte. Äußern sich diese Gefühle jedoch, bewahren aber das rechte Maß, so heißt man dies Harmonie. Die Mitte ist der wahre Grund der Welt, die Harmonie ist das unabänderliche Tao der Welt. Wer Mitte und Harmonie gewährt, der verschafft da Himmel und Erde ihren Ort, lässt da alles wachsen und gedeihen.
Die hier genannten Gleichgewichte – Streben nach Objektivität, Selbstbeherrschung, Balance von Verstand und Gefühl, die Di- alektik von Führen und Wachsenlassen, in summa das Streben nach Vernunft, – verlangt Konfuzius von den Herrschenden. Die Beherrschten neigen zur Maßlosigkeit. In unserer Gegenwart, lange nach der Zeit der europäischen Aufklärung, wird hingegen das rechte Maß von allen erwartet, zunehmend sicherlich auch in China, wo die Regierten in den Regierenden (Partei, Staat) noch immer Vater und Mutter sehen. In europäischen Ländern ist diese Sichtweise schwächer geworden. Die Vorstellung einer hierarchisch gegliederten Welt und Gesellschaft ist überall noch nicht überwunden.
Zhongyong, XIII.
Kong Fuzi sagte: „... Was man dir nicht tut, das tu auch keinem anderen an. Das Tao des edlen Mannes (junzi) ist vierfacher Natur, der ich allerdings nicht einmal in einem einzigen Fall gerecht werde. Meinem Vater diene ich noch nicht, wie ich es als Sohn tun sollte. Meinem Herrscher diene ich noch nicht, wie ich es als Untertan tun sollte. Meinem älteren Bruder diene ich noch nicht, wie ich es als jüngerer Bruder tun sollte. Meinen Freunden lasse ich noch nicht zukommen, was ihnen zuerst gebührt ...“
Meister Kong erscheint hier als asiatischer Kant des sechsten Jahr- hunderts vor unserer Zeitrechnung. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu – steht auf der Konfuzius-Sta- tue in Berlin-Marzahn. Das ist Kants kategorischer Imperativ. Er vermag ihn selbst nicht zu erfüllen – weder im privaten noch im öffentlichen Leben. Er ist realistisch.
Ein Denker wie Konfuzius kann dem chinesischen Gemeinwesen auch heute als Fundament dienen, das der derzeitigen Verfassung einer korrupten Partei, die weder genügend Selbständigkeit noch die dafür notwendige Freiheit fördert, weit überlegen wäre. Sein kategorischer Imperativ gilt für das Gemeinwesen – der Einzelne soll sich selbst ausbilden, sein Haus und seine Familie einrichten, und so soll das ganze Land eingerichtet werden (Daxue). Wenn das streng hierarchische Ordnungsdenken des Konfuzius, das den patriarchalischen und feudalen Verhältnissen einer vergangenen Zeit entsprach, den Prinzipien der Aufklärung angepasst würde, könnte sich ein neues und stärkeres China entwickeln, eine Repu- blik der Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Aber die herrschenden Verhältnisse sind nicht so, dass große Hoffnung aufkeimt. Auch wir im Westen können uns mit Gewinn an Konfuzius orientieren, indem wir unser Gemeinwesen im Hinblick auf seine ethischen Grundlagen überprüfen – wir müssen schneiden und schleifen, schleifen und polieren, ernst sein und weitherzig, klar und schil- lernd! Aber das ist ein großes Feld, ein weiter weiter Weg ...

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Melodia (08.08.15)
Erneut eine sehr gute Kolumne! Mit dem Konfuzianismus habe ich mich nur sporadisch befasst - war mir zu "offensichtlich" - fand den Daoismus spannender. Dennoch kam mir viel bekannt vor und der gute Mann war seiner Zeit weit voraus!

Nette Info am Rande (die du vermutlich bereits kennst): Der Begriff 大学 Daxue wird heute für Universität verwendet.

LG
Graeculus (69)
(10.08.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram