KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 02. September 2015, 13:41
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BRIEFE AN HERRN ANDRÉ ÜBER DIE LITERATUR (4)

475. Kolumne

4

Lieber Damonte, nun behaupten wollen, ich verstünde Ihre Situation, so wäre dies fast anmaßend. Was ich sehen kann, ist, dass das Schicksal mit eiserner Faust in Ihr Leben hineinhält und Sie kräftig schüttelt. Zukunft ist ungewiss für Sie. Ich habe mich mehrmals mit Gerd Zurbaran darüber ausgetauscht. Dabei wähnte ich Sie so sehr als einen auf der Sonnenseite des Lebens ... Ich kann nur hoffen, dass der Schmerz Sie nicht zu sehr in ein Tal der Tränen versinken lässt, dass Ihnen der Freiraum bleibt für die heitere Kunst jenseits des Ernst des Lebens. Ein wenig besser verstehe ich nun Ihre Angst vor dem Tode, Ihre Sorgnis, Sie könnten nicht zu dem kommen, was Sie sich evtl. als poetisches Werk wünschen. Aus alledem, und wenn es vorbei ist, so oder so, werden Sie geläutert hervorgehen, und vielleicht ganz Ungeahntes hervorbringen. Diese Hoffnung bleibt. Und dass Sie auf gewisse Weise durch die Einladungskarte für heute ja auch sehr präsent sind. Ich habe Ihnen ein Ex. E 7 in die Post getan, dazu auf Wunsch v. Gerd Zurbaran die Wege, die er ging... Ihnen alles Gute wünschend und v. a. viel Kraft und Gottesmut für die kommende Zeit; Gesundheit, Erfolg und Glück für Sie in 2004 wünscht Ihnen Ihr Fabian André


Lieber Fabian André,
mir geht es wieder viel besser! Meine Frau ist wieder zu Hause, und sie erholt sich gut. Als ich Gerhard Zurbaran schrieb, war ich sehr niedergedrückt (immerhin war meine Frau über 4 Wochen in der Klinik, so lange wie nie zuvor, und sie litt sehr unter dem nahenden Darmverschluss, der durch den Tumor bewirkt wurde), sodass er annehmen konnte, ich teile bald sein eigenes schwer erlittenes Schicksal. Aber es ist noch nicht so weit. Im Gegenteil. Gestern stellte sich heraus (OP-Bericht und histologischer Befund), dass meine Frau gute Chancen im Kampf gegen den Krebs behält, denn die OP gelang besser als erwartet, es gelang ein radikales Herausschneiden des Tumors. Die Ärzte setzen jetzt statt einer (zweiten) Chemotherapie eine antihormonelle Therapie an, und das bedeutet, dass keine schlimmen Begleiterscheinungen auftreten! Wir machen uns nichts vor, wir wissen, die Gefahr bleibt bestehen.
Gerhard Zurbaran schickte mir, als mir im Brief vor Sorge der Mund überlief, Notizen zum Tod seiner Frau - er ist ein guter Mensch. Interessant ist, wie selbstkritisch er sich sehen kann (trotz eines gewissen Narzissmus, den er als Autor nicht ganz unterdrücken kann...), etwa in seinem Gedicht „Selbstinventur“. Er hat erlebt, was mir droht, was mir auch noch passieren kann.
Sie hatten mit Ihrer Vermutung, ich stünde auf der Sonnenseite des Lebens, grundsätzlich nicht Unrecht. Es ging mir (wenn ich von meiner ziemlich schweren Jugend absehe) seit dem späten (Externen-)Abitur (mit 24 Jahren!) und meiner Heirat sehr gut, und ich habe gut dreißig große schöne Jahre. Auch als meine Frau im Herbst 2000 an Krebs erkrankte (es ist eine seltene Variante des Eierstockkrebses), ging das Leben trotz schwerer Operation im Dezember 2000 gut weiter. Trotz oder gerade wegen vieler Tränen, die ja wie Blitzableiter entspannen, hatte ich viel Freude mit meiner Frau in den letzten drei Jahren. Die berufliche Arbeit, die mir sehr gefällt, stützt mich sehr. Ich bin zum Glück nicht schwach konstruiert, und Sie vermuten ganz richtig (genau wie ich): „Aus alledem, und wenn es vorbei ist, so oder so, werden Sie geläutert hervorgehen, und vielleicht ganz Ungeahntes hervorbringen.“ Das ist denkbar und gut möglich.
Natürlich bin ich gespalten jetzt. Zu der Aufgabe, wie ich mit der Krankheit meiner Frau lebe, geht mir vieles durch den Kopf. Es ist ein Prozess, bei dem ich nicht steuern kann, der grundsätzlich drohende Verlust schlägt auf die Seele. Wir sind uns näher als zuvor. Ich werde in Änderungen hineingetrieben. Ich ahne, ein Teil der Antwort für meine Frau und für mich heißt: Lern das Schwere und das Schwerste, wenn es kommt, anzunehmen, hinzunehmen! Gestalte, was sich gestalten lässt. Das ergibt sich dann. Ich muss die Kunst des lebensnotwendigen Verdrängens schwerer Lasten umbauen. Ich vermute, dass sich manches nicht immer und nicht ganz verdrängen lässt. Flucht ist aber keine Lösung. Ich bezweifle Nichthandeln, Weitermachen oder Dahintreiben. Sich selber ändern ist wichtig: Bestimmt habe ich mich schon lange nicht mehr geändert. Die Lust auf gelebtes Leben ist nicht mehr selbstverständlich. Jahrelanges Ausleben in zu vielen kommunikativen Situationen. Aktionismus. Ich habe das abgebaut, als mein Körper sich auflehnte - ein kleiner Gehörsturz war das Zeichen, auf das ich sofort hörte. Ich hörte am 11.1.1994 mit dem Rauchen auf, jahrelang rauchte ich 40 Zigaretten täglich, zuletzt rauchte ich 60. Ich wurde familiärer, unternahm mehr mit meiner Frau, arbeitete dann auch in der Schule wieder intensiver mit den Schülern. In dieser Zeit verlor meine Frau ihre mädchenhafte Leichtigkeit, wir kamen uns noch näher. Aber das alles geschah ohne Überlegung, es ergab sich fast von allein.
Im Rückblick sehe ich das alles bestimmt anders als damals. Ich weiß aber noch genau, wie ich am Tag nach der letzten Zigarette geweint habe. Es müssen Tränen gewesen sein, die mit dem Verlust letzter Jugend zu tun hatten - es war die etwas dramatische Annahme meines Alters. Ich bin versucht zu sagen, es war der größte Fortschritt auf dem oft unbewussten Weg sich selbst anzunehmen.
Die Jahre zwischen 50 und 60 sind trotz aller Gefahren nicht die schlimmsten. Es sind gemischte Jahre mit Höhen und Tiefen. Gut, vorher waren die Jahre ausgeglichener, und der Tod schien noch so weit. Das ist jetzt anders, der Tod kommt in verschiedenen Kostümen. Neue Herausforderungen reizen, Entfremdungen in den verschiedensten Bereichen drängen. Wir spüren auf einmal unseren Körper ganz anders. Doch müssen wir nicht ganz von vorn beginnen wie in Kindheit und Jugend.
Die Arbeit in der Schule lenkte mich zum Glück ab in den letzten Wochen. Ich plane ein Theaterstück mit meiner 8B (CURRYWURST MIT POMMES von Frank Pinkus und Nick Walsh, mir unbekannte Autoren - das Stück, eine Szenen-Folge vor einer Pommes-Frites-Bude, ist wirklich gut). Dann, wie immer, Theatergastspiel in Dresden im Juni 2004. Theater mit der 12. Klasse: Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, Premiere Anfang Mai. Direkt danach gehe ich auf Studienfahrt mit der 12. Klasse in die Toskana. Und die permanenten Korrekturen. Ich bin gut ausgelastet.
Ich schrieb auch neue Kurzerzählungen für den Zyklus KRITISCHE KÖRPER. Ich wundere mich, dass das so leicht geht. Flucht oder Verdrängung? Ich weiß es nicht. Verliere ich mich? Wenn ich meine Frau verliere, verliere ich so viel, dass ich mich wieder suchen muss. Ich habe Angst vor dieser Angst. Ich frage mich auch: Wie nah, wie gut sind mir meine Freunde, und wie stehe ich zu ihnen. Bin ich allein, wenn ich meine Frau verliere? Was bin ich dann noch? Ich weiß das alles nicht. Ich fürchte mich auch vor dem Ende meines Berufs. Wenn ich pensioniert werde, verliere ich so viel, dass mir schwindlig wird. Ich werde dann nur noch das Schreiben haben, vielleicht noch das Lesen, und ab und zu Theaterbesuche mit lieben, alten Freunden... Ich werde bittrer... Aber ich weiß, ich werde alles durchstehen. Ich bin ganz sicher. Ich werde mich wiederfinden, falls ich mich verlieren musste. Vielleicht habe ich, haben wir, auch ganz viel Glück. Ich werde nie allein sein. Ich werde auch das Ende des Berufs aushalten. Dann schreibe ich den Roman, der schon im Kopf ist.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Worte, sie taten mir gut in diesen Tagen! Ich bin überhaupt sehr froh, Sie kennengelernt zu haben. Ihnen alles Gute! Herzlichst: Ihr Damonte


Lieber Fabian André,
das Jahr endete versöhnlich für mich und meine Frau, vor allem für sie, denn sie befindet sich auf gutem Weg zur Gesundung!
Ich bekam stärkere Lust zum Schreiben und zur Erledigung schriftstellerischer Dinge (Korrekturen, Überarbeitungen) und schulischer Arbeit. Und ich las auch Neues. Ich entdeckte per Zufall (ein Weihnachtsgeschenk einer Freundin für meine Frau: Eine Literatur-CD) den mir völlig unbekannten Schriftsteller Oskar Panizza (*1853 in Esslingen, + 1921), dessen Erzählung „Die Menschenfabrik“ mich geradezu begeisterte - da schrieb vor hundert Jahren eine mir verwandte Seele groteske Erzählungen wie ich, nicht genau so wie ich, aber doch in meinem Geist. Die Erzählung nimmt Kafkas Visionen und Huxley’s „Brave New World“ vorweg!
In den Weihnachtsferien las ich die ganze TEXTUR 7. Die Ausgabe besticht sofort wieder, also schon bei erster Durchsicht, durch das überzeugende, klare und unveränderte Layout (so eine editorische Linie ist eine sehr erfreuliche Sache!) und die thematisch wie künstlerisch grandiosen Photographien! Ebenso das wirklich vorzügliche Vorwort Holger Benkels, an das sich sein Brief an den Verleger anschließt, was auch noch in späteren Fällen in dieser Nummer geschieht - eine schöne Idee so ein formaler ‘roter Faden’, der mit persönlichen Gedanken die formale Strenge der Ausgabe sanft durchbricht. Holger Benkels Lyrik, die gleich seinem Vorwort folgt, schätze ich sowieso. Da stehen, weil Sie das alphabetische Prinzip konsequent durchhalten, gleich die schwersten oder tiefsten Texte am Beginn der Ausgabe... Danach folgt zunächst Leichteres, teils Spielerisches, bis mit dem „Eisernen Vorhang“ die Tiefe des Innenlebens wieder zunimmt: Die Verwandlung der reifenden Persönlichkeit. - Gerhard Zurbaran gefällt mir am besten in seinen einfachen Gedichten, wenn das Reflektierende zurückgedrängt ist: „Metamorphose des Löwenzahns“ ist ein wunderbar schönes Naturgedicht oder Gedicht des Seins - mit ein paar leicht eingestreuten Bezügen zum Menschenleben. Achim Eisenlöhrs expressives Gedicht „wortgewalt“ ist toll! In ein starkes Bild gefasst wird die seelische Gewalt innerhalb einer Ich-Du-Beziehung, in der die Sehnsucht nach dem Verstehen zum Ausdruck kommt in zerstörerischer Verletzung. Eine der besten Seiten der ganzen Nummer! „Durch das Nachtmeer“ von Helmut Fritz ist ein mir nur sehr schwer verständliches Gedicht, es kommt mir wie eine Collage vor, die verschiedene Mythen oder Lebensläufe oder Beziehungen verschiedener Orte und Zeiten in ein Jetzt verschmilzt, ich bin nicht sicher. Sprachlich großartig. - Schon wieder sehr angetan bin ich vom Charme der Worte Elke Heinrichsohns: Eino, Zweio, dreio! Diese clowneske Entwicklungsballade gefällt mir in ihrem liedhaft-sentenziösem Ton. Nase auf! Nase ab! Das Lied von Einsamkeit und Schein und Sein der Selbsterkenntnis ist gut gebaut und sehr prägnant. Hut ab! - In Timm Jahns Gedicht „Unterm Strich“ taucht das Bild vom Schmecken und Essen der Worte ähnlich auf wie bei Achim Eisenlöhr, allerdings schwächer. Gut durchgehalten wird das Bild von Mauer / Fassade in dem Gedicht „Wetternarben“. - Unterhaltsame Erläuterungen zum Clown gibt Ernst G. Jost. - Das Bild vom Lächeln in Klammern in A.R.’ Gedicht „Falten-Worte“ gefällt mir! - Sehr schön finde ich den historischen Aufsatz „Herzog Carl Eugen“ von Sabine Thomsen, nicht nur weil er das thematische Ensemble der Beiträge so direkt bereichert, sondern auch weil er klar informiert über die Verbindung von Damals und Jetzt. Allerdings fehlen die Nachweise der verwendeten Quellen. - Ein schöner (alphabetischer) Zufall, dass direkt nach dem historischen Aufsatz Ilse Wagners venezianische Schilderungen folgen.
Ich las noch einmal Ihr letztes Info von Forum Literatur und dachte, dass doch Texte von mir zum Thema Stadt passen, wenn es sich nicht speziell um Mannheim handeln muss. Meine Texte beinhalten urbane Lebensumstände (a. Museen, Theater, Kino, Kaufhäuser, Cafés...; b. Handy, Tacheles in Berlin, Sommeratmosphäre in der Beethoven-Stadt Bonn, Manhattan) bis hin zu parabelhaften Bewusstseinszuständen und Stadtneurosen...
Anbei also einige Texte zur Auswahl für TEXTUR 8 (Stadt):
a. Aus den ARTHURGESCHICHTEN:
Einbildung. Nachsicht. Persona non grata. Nacht. Selbstinventur. Salz und Zucker. Massenattraktion. Welcome to the Pleasure Dome. Femme terrible.
b. Aus KOPFLOSE HANDLUNGEN: Konsequente Schritte. Ganz woanders. Aus KRITISCHE KÖRPER: Tacheles. Die Lösung. Aus TOTENBLÄTTER: Tour de Trance.
Ihnen alles Gute für das neue Jahr! Herzlichst: Ihr Damonte
P.S.:
Bitte schicken Sie mir auf Rechnung zwei Exemplare TEXTUR No. 7.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 toltec-head (18.09.15)
Ich fürchte, da muss die IS ran.
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