Die Motte und der Schmetterling

Parabel zum Thema Liebe und Sehnsucht

von  deflyn23

Jeden Tag einen Tag mehr gestorben war die Motte, seit sie den Schmetterling das erste und letzte Mal gesehen hatte. Sie hatten sich zufällig getroffen, waren sie sich doch völlig unbekannt, in ihrem Wesen gegensätzlich, würden manche sagen. Und trotzdem kam es, dass sich ihre Wege kreuzten, eines Nachmittages im Frühling, als die ganze Welt wie am Morgen nach der Nacht des Winters ihre Glieder zu recken schien, und all die dunklen Tage der jüngsten Vergangenheit vergessen waren angesichts des Waldsees in der bereits untergehenden Sonne; das magische Flimmern und Glitzern seiner Oberfläche war wie ein vielversprechender Schatz, der alle ausgehungerten Waldbewohner nun unerbittlich anzog.
Ungeachtet der für sie untypischen Zeit und übersättigt von all den neuen Eindrücken, um die der Wald im Licht der Frühlingssonne reicher geworden zu sein schien, machte sich die Motte taumelnd auf den Weg, getrieben von Hunger und Durst nach Leben. Für gewöhnlich mied sie die Gesellschaft anderer ihrer Art oder anderer Waldbewohner generell - nicht, dass sie sie hasste, sie war nur von Natur aus lieber allein, empfand die Anwesenheit von Anderen immer nur auf eine unangenehme Art und Weise verpflichtend, meistens einfach nur anstrengend. Trotzdem nahm sie in Kauf, womöglich bemerkt zu werden, denn das Getümmel am und auf dem See war immer noch groß; doch als sie ohne Erwartungen an einem abgelegenen Ende des Sees ankam, wo das winzige Ufer eine rundliche Form beschrieb, die fast eine kleine Bucht war, hatte sie den Weg hinter sich gebracht, ohne jegliche Aufmerksamkeit zu erregen. Hier gab es genügend Schatten, um der Motte zu genügen und die schreckliche Sonnenanbeter fernzuhalten, nur ein paar vereinzelte aber kräftige Sonnestrahlen durchdrangen das Dickicht, teilten die Dunkelheit wie es eben nur dem Licht möglich ist. Die Reflexionen der Strahlen auf dem Wasser tauchten die Bucht in ein unwirkliches Grau, welches der Motte ebenso willkommen war wie die leise Andeutung von Wärme, die der Lichteinfall ebenso mit sich brachte. Die Motte ließ sich also am Ufer nieder, gerade so, dass sie mit dem Mund die stille Wasseroberfläche erreichen konnte und dennoch der Schutz ihrer empfindlichen Flügel gewährleistet war. Sie trank, zunächst gierig, dann genoss sie die flüssige Kühle, die sie durchströmte als sei es eine vorweggenommene Reaktion auf das, was als nächstes passierte und in ihr etwas auslöste, so stark und intensiv, dass sie auf der Stelle gleichzeitig hätte zerreissen, verglühen oder auf jede denkbare andere Art sterben oder Feuer fangen hätte können.
Das ferne Glitzern auf dem Wasser hatte sich verändert, war heller und mannigfaltiger geworden. Einem Reflex folgend hörte die Motte auf zu trinken und drehte den Kopf, um den Ursprung dieses verstärkten Leuchtens auszumachen. Was sie sah, war eine Gestalt, die genau vor einem der Ritze schwebte durch die die Sonne ihre Strahlen schickte. Die Motte konnte nur schemenhaft eine Ähnlichkeit mit dem Erscheinungsbild ihrer Art herstellen, ansonsten war die Erscheinung zu hell, zu gleißend hell, eine Sonne, und sie schien nur für die Motte zu scheinen. So verharrten sie einen Moment, der Schmetterling, die Sonne im Rücken, der auf der Suche nach einem ruhigen Platz zum Trinken gewesen war, und die Motte, starr starrend, die ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Nun wusste sie, wonach.
Der Schmetterling bewegte sich auf das Wasser zu, und sein Sinkflug aus dem Lichtstrahl heraus ließ die Motte ihn erkennen. Ja, seine Form war der ihren täuschend ähnlich, der Leib, die Anordnung der Flügel, alles war wie eine göttliche Schablone, die auf sie beide - Zwillinge des Universums - angewendet worden war. Aber eben auch nur der Umriss war identisch, alles andere war wortwörtlich wie Tag und Nacht. Wo auf der Motte Schwingen dunkle Linien und Muster von Isolation und Tod kündeten, schwarze und dunkelbraune Strudel den Betrachter mit hinab in ihr verlorenes Reich zogen, war der Anblick des Schmetterlings über alle Maßen erhebend. Eine Komposition aus Farben, fragil und wertvoll wie Glas, so leicht und doch so ungeheuer stark im Ausdruck. Und die Muster! Nie zuvor hatte die Motte etwas schöneres gesehen, ihr war, als könnte sie niemals wieder die Augen davon abwenden; und wenn sie es doch schaffen würde, wäre alles blass und langweilig im Vergleich zur unnahbaren Schönheit des Schmetterlings.
Als dieser sich setzte um zu trinken, demonstrierte die Motte Desinteresse, indem sie sich erhob und (augenscheinlich) davonflog. In Wirklichkeit aber setzte sie sich in ein Astloch etwas höher ins Gestrüpp, wo sie sicher ungestört bleiben würde, während sie sich innerlich danach verzehrte, zu diesem fremden, wundervollen Geschöpf zu gehen.
Bald hatte der Schmetterling seinen Durst gestillt und flog weiter seines Weges, als hätte er die Motte auch ausserhalb ihres Versteckes nicht bemerkt. Während er davonflog, war das ganze Wesen der Motte auf ihn gerichtet, alle ihre Sinne waren bei ihm. Sie sah seine Bewegungen, seinen vollkommenen Flug, hörte die Geräusche, das leichte Schlagen seiner Flügel und schmeckte und roch den letzten Rest seiner Präsenz.
Als sie ihn schließlich mit keinem ihrer Sinne mehr wahrnehmen konnte, ließ sich die Motte aus dem Astloch fallen. Sie fiel ein Stück und fing ihren Sturz kurz vor dem Boden ab; es war mittlerweile Abend geworden und die Wahrnehmung der Motte war noch nicht ganz wieder hergestellt. Diese Erscheinung dominierte ihr ganzes Denke und Empfinden, zum Einen war sie von einem nie dagewesenen Hochgefühl erfüllt, zum Anderen sehnte sie sich sofort wieder nach dem Schmetterling, so als würde ihr seine Abstinenz Schritt für Schritt die Luft zum Atmen nehmen. Sie wollte ihm nahe sein, so nah wie nie zuvor jemand ihr gekommen war würde sie ihn kommen lassen. Wenn sie ihn nur wiedersehen könnte. Kreisende Gedanken begleiteten sie in die Nacht des Waldes.


Das alles war vor einer Woche gewesen, seither waren die Tage und Nächte gekommen und gegangen, nichts hatte für die Motte noch Relevanz; sie aß wenig und schlief noch weniger, immer streifte sie umher auf der Suche nach dem Schmetterling. Jedem nur halb so verführerischen Glanz jagte sie nach, und sie war unzählige Male an der Stelle ihrer Begegnung gewesen.

Ein Jäger und sein Hund wärmten sich vor dem Feuer auf dem sie ein Kaninchen brieten. In dieser Nacht zeigte der Frühling seine kalte Schulter und sie waren in den vergangenen zwanzig Minuten, seit der Jäger das Feuer entfacht hatte, immer enger zusammangerückt.

Da! Dieses göttliche Scheinen zwischen den Bäumen, im Dunkel, das es umrahmte, unverkennbar. Die Motte erkannte es sofort wieder, sie hatte es schließlich schon einmal gesehen, diese Gleißen, das nur für sie gestrahlt hatte, und jetzt, nach dieser unglaublich langen Zeit, hatte die Motte ihn endlich wiedergefunden. Ihren Schmetterling, er war gleich da vorne, sie konnte ihn wieder riechen und würde ihn bald wieder sehen können. Diesmal würde sie sich ihm zu erkennen geben und sie würden glücklich miteinander werden. Nur noch ein paar Meter, das Hell war schon blendend, die Motte stürzte in absoluter Erfüllung ohne Kontrolle vorwärts, zu ihrem Schmetterling, hinein in das Feuer.

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Kommentare zu diesem Text

aliceandthebutterfly (36)
(29.10.19)
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