Pappnasen, Rotzfahnen und Glanzparaden.

Kurzgeschichte zum Thema Biographisches/ Personen

von  Pameelen

Illustration zum Text
Pameelen.
(von Pameelen)
Ein Wendepunkt (mathem.) ist ein Punkt auf einem Funktionsgraphen, an welchem der Graph sein Krümmungsverhalten ändert. Ein Graph wechselt hier entweder von einer Rechts- in einer Linkskurve oder umgekehrt. Dieser Wechsel wird auch Bogenwechsel genannt. Die Kenntnis von Ableitungen ermöglicht verschiedene Aussagen über den Graphen einer Funktion, so zur Monotonie, zu den Extrema, zum Krümmungsverhalten und zu den Wendepunkten.



Als Kinder zogen wir uns morgens Kniestrümpfe an wegen der Zecken im hohen Gras und zogen mit einem Eimer über die Heide bis zum See. Tagsüber verbrachten wir damit kleine Frösche zu fangen. Wir ärgerten uns, weil sie nur so dasaßen und sich kaum bewegten. Manche schlugen wir deshalb einfach tot. Abends nahmen wir doch einige mit nach Hause. Wir beobachteten sie dann in einem Eimer, um zu sehen, wie sie sich liebten, legten Gras und Kamille dazu und warteten. Einige nahm ich mit hinauf in mein Zimmer. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Jahre später als wir renovierten, tauchten sie wieder im Staub der Tapetenreste auf, verdörrt und versteinert hockten sie leblos verstaubt im hintersten Winkel unter einem Schrank.


Als Kinder jonglierten wir im Garten auf einer Garde leergetrunkener Flaschen, die in der Grenze standen und eine Linie zwischen den Nachbarn bildeten. Weinflaschen, Steinhägerflaschen und Doornkartflaschen überquerten wir barfuss leichten Schritts. Oma breitete währenddessen ihre Wäsche auf der Wiese zum Bleichen aus und im Vorübergehen strich sie meist sanft durch die Blätter ihres Oleander, ein Mitbringsel aus Ostpreußen, das sie durch den Krieg hindurch bewahrt hatte. Bloß blühen wollte er zum Verrecken nicht. An ihren besten Tagen kochte sie Bergmannsspargel und den köstlichsten Kalbsbraten. Manchmal ließ ich Omas frisch gewaschne Mieder auf einem Finger weit über dem Kopf kreisen, während ich davonrannte und im Garten Haken schlug. „So ein Lorbass!“ schallte es im Rücken. Richtig rabiat war dagegen die Milchfrau, die -einmal meine Zunge weit in ihre Richtung gestreckt- mit einer Nagelschere albtraumerzeugend die Verfolgung aufnahm. Es ging keuchend die ganze Straße hinunter bis zum Friedhofsweg, vorüber an welken Gebinden und geöffneten Grabstellen, dann erst drehte ich mich um und starrte froh ins Leere. Als Kind pickte die Mama die scharfen Steine von den Knien, wenn ich wieder einmal mit dem Rad gestürzt war. Sie wusch die entschuldigenden Lügen mit dem geronnenen Blut von den Waden, während ich im Waschbecken stand und aus Leibeskräften schrie. Auf der Innenseite im Spiegelschrank las ich, dass bei einem Notfall die rot angegebene Rufnummer der Feuerwehr zu rufen sei. Ich erschrak. Mutter war es, die mir einen der begehrten Plätze in einem katholischen Kindergarten besorgte, obwohl ich evangelisch war und sie war es auch, die zu meinem Geburtstag eine Planwagenfahrt über Klosterhardt organisierte.


Der erste richtige Freund kam aus der Siedlung der langen Balkone, deren Kinder schon meinem Vater spaßeshalber Stöcke in das fahrende Rad geworfen hatten, wenn sie ihn nicht gleich vom Rad stürzten und mächtig verdroschen. Er hatte noch zwei Brüder und eine Schwester, allesamt jünger als er und von verschiedenen Vätern. Er war kleiner und schmächtiger als ich, aber dafür bei Faustkämpfen meist der brutale Sieger. Mit Uwe waren wir selbsterkorene Mitglieder des ersten Motorradclubs auf Klosterhardt. „Walkabouts“ nannten sich die harten Jungs im weichen Leder. Wir drehten unsere Runden und holten für sie frisches Bier vom Büdchen. Der Präsi, nach der siebten Klasse Hauptschule entlassen, niemals eine Stechuhr von vorn gesehen, sah aus, als ob er nach der Currywurst die Verpackung gleich mit verputzte. Die Suffköppe flanierten mit ihren Kutten im Park und behaupteten sich erfolgreich als angesehene Anwälte der Kids im Sandkasten. Saxon oder Judas Priest schrieen den brettharten Refrain dazu. Die Mopeds fehlten noch und existierten nur in ihren aufgeweichten Kleinhirnen. „The ballad of easy rider“ nahm auf unseren 26“-Rädern ihren Lauf, wenn sie auf Tour gingen. Einen von ihnen traf ich mehr als ein Jahrzehnt später auf den Stufen vor dem Hotel Ruhrland sitzend am Oberhausener Hauptbahnhof. Vom einstigen Glanz als kettenschwingender Wortführer einer lausigen Horde Halbstarker blieb nur noch die zerfetzte schwarze Lederjacke mit ihren Nieten und Aufnähern ferngerückter Motorradclubs, die längst über alle Berge waren. Jetzt bettelte er erst einmal die vorübereilenden Passanten um ein paar Groschen für ein Döner an.


Mitte der Achtziger. Reparaturschicht. Auf dem Nordschacht eintausendeinhundert Meter tief eingefahren, im nächsten Blindschacht nochmals `zig Meter tiefer. Höhe Flöz Anna, ein stinkendes Drecksloch. Diese blöden Blasmaschinen, ewig war eine Leitung mit Zement verstopft, wie übergeschnappt hunderte von Metern mit dem Hammer abgeklopft. Glücklicherweise noch auf einer Hauptstrecke den lästigen Stopper gefunden, Leitung in Ketten gesichert, mit dem dreißiger Ring verrostete Muttern aufgewuchtet, -ich weiß nicht wie. Vor Ort ruht die Arbeit. Die Leitung schwingt frei, durchprokeln mit irgendwas, nur schnell muss es sein. Vier, fünf Stunden Schinderei, neue Schrauben in den Flansch gezogen, dann geht alles klar. Gutmeldung. Pause. Vier doppelte Brote aus dem Zeitungspapier gewickelt. Die durchgeweichten Brote hinterließen ölige Flecke bei den Sonderangeboten, -warme Brotpampe mit ein bisschen Salamigeschmack. Der Schweiß lief den Hintern hinunter, Kohlenstaub hinterließ einen feuchtglänzenden Schweißfilm auf der Haut. Stotter-Detlef zog die Dose Schnupftabak und lächelte debil. Zumindest heute verschonte er uns von seiner Kaffeesatzbiographie, die bei der Ausbildung begann, über den Meisterbrief direkt zur Familie und einer Polstergarnitur inmitten eines Arrangements von Falschholzmöbeln führten und schließlich beim eingeschäumten Mittelklassewagen in der Hofeinfahrt endete. Ratenpläne gab es dann wohl ohnehin. Irgendwann schien alles in einen Trichter zusammenzulaufen, so meine unbedarfte Vermutung. Erst einmal liefen Kakerlaken weiter im Dreck geschäftig auf und ab.


Nicaragua-Workshops wuchsen in den Achtzigern wie Pilze aus dem Boden. Man saß vor Tropfkerzen auf leeren Sangriaflaschen, von denen Wachs auf den Teppich matschte, und gemeinsam wurde beschlossen, den Kauf von mittelamerikanischem Kaffee zu boykottieren. Die amerikanische Fahne trug ein Fadenkreuz, während immer wieder schwarzer Tee aus Ceylon aufgebrüht und Räucherstäbchen angezündet wurden. „Wir haben es satt, satt zu sein!“* kritzelte jemand im kirchlichen Jugendheim an die Wand. Das omnipotente Kollektiv oder das, was sich dafür hielt, traf sich am Wochenende im Bottroper Stadtgarten zum Sit-in. Einer las laut die Erfüllungsliteratur von Adorno, man kicherte und markerte begeistert in den Texten herum. Eine Frau lag im Gras und drehte wie ein Derwisch an ihrem Zauberwürfel herum und niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, was ihr wahnsinniges Grinsen zu bedeuten hatte. Erleuchtung sicherlich nicht. Ein anderer erlag im Yogisitz den Reizen des Nirwana und glotzte dabei debil in die Sonne. Jemand klimperte ungelenk „Give peace a chance“. So ganz wollte es mit dem Frieden noch nicht klappen.
Ein Altfreak, grau und blutleer das Gesicht, verlief sich hin und wieder auf `ne geschnorrte Tüte bei uns. Während er mit dreckigen Fingernägeln gierig nach der Tüte grabschte, tischte er uns gestenreich seine abgestandenen Geschichten aus den Flugblattdruckereien der Berliner Kommunen auf. Sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Dann der Sturm auf das Springergebäude. Klar! Dabei schaute er einen jeden von uns reihum tief und ernst in die Augen. Seine Erwartung auf offene Münder und Begeisterungsstürme wurde nicht enttäuscht. Er konnte Storys wie die über ihn und Ray Manzarek, den er selbstverständlich in Amiland getroffen haben wollte, nur so aus dem Ärmel schütteln. Im Bier seien sie gemeinsam untergegangen. Und dann traf er natürlich Lou Reed. „Man, war der schtount.“
Ja, ja!
Jeder staunte, ich schwieg.


Schließlich kotzte das John Lennon-Früchtchen endlich einen Riesenschwall über die Parkbank in das nächste Rosenbeet und jemand legte doch lieber gleich eine Cassette von Grobschnitt ein. Später sangen Grauzone „Ich möchte ein Eisbär sein . . .“, und die Joints gingen wieder einmal in Flammen auf, eine Generation gleich dazu, die wieder einmal nur von sich sagen konnte: Déjà-vu.


*  Gudrun Ensslin

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

AugenBlick (32)
(19.09.07)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
steinkreistänzerin (46)
(19.09.07)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
steyk. (58)
(20.09.07)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
LudwigJanssen (54)
(06.12.07)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram