Teil 10

Roman

von  NormanM.

Ich wollte gerade fernsehen, als es klingelte. Das konnte nur wieder Sebastian sein, obwohl er ja gesagt hatte, dass unsere Freundschaft gekündigt sei. Ich hätte normalerweise nicht aufgemacht, bekam aber so eine Wut, dass ich beschloss ihn meine Meinung zu sagen, damit er ein für alle Male abhaute und nicht wieder anfing zu diskutieren. Als ich zur Tür kam, hörte ich, dass er schon davor stand. Verärgert öffnete ich die Tür, aber dort stand nicht Sebastian. Ich konnte es kaum glauben, dass dort tatsächlich mein Vater stand. Ich war mehr als nur überrascht. Nachdem ich ihn seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, stand er plötzlich ganz unerwartet vor meiner Tür.
„Vater?“, fragte ich.
„Hallo Martin“, sagte er.
Ich sagte nichts darauf. Er war sehr grau geworden, besonders an den Schläfen. Vermutlich hatte die Zeit nach Mutters Tod dazu beigetragen. Auch war sein Haar schütter geworden. Den Bart trug er noch, er hatte sich, als er sich so gehen ließ, das Rasieren eingestellt. Aber er sah jetzt gepflegt aus.
„Was machst du hier?“, fragte ich.
„Ich wollte mal sehen, wie es dir geht. Ja, ich weiß, du fragst dich, wieso ich jetzt nach all den Jahren aus heiterem Himmel zu dir komme, was ich auch verstehen kann“, fing er an. „Ich weiß, ich hab Fehler gemacht damals“, fuhr er fort.
„Allerdings“, sagte ich.
„Ich wusste es schon lange, die ganze Zeit, ich weiß auch, dass ich ihn wahrscheinlich nicht wieder gut machen kann, aber ich wollte endlich nach so langer Zeit mal nach dir sehen“, sprach er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Möchtest du hereinkommen?“, fragte ich dann.
„Ja, gern“, antwortete er.
So ließ ich ihn hinein. Ich  bat ihn ins Wohnzimmer.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte ich. „Ein Wasser? Einen Kaffee? Eine Cola? Ein Bier?“ Das letzte Getränk sprach ich etwas betont aus, da er ja nach dem Tod meiner Mutter dem Alkohol verfallen war, kaum ausgesprochen tat es mir aber schon wieder leid.
„Ja, eine Cola wäre schön“, antwortete er und schien die Andeutung gar nicht bemerkt zu haben. Ich schüttete uns beiden Cola ein.
„Du hast es schön hier“, sagte er. „Wie lange wohnst du hier schon?“
„Seit zweieinhalb Jahren“, antwortete ich. „Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“
„Ich hab Oma gefragt“, antwortete er.
„Davon hat sie mir ja gar nichts erzählt“, wunderte ich mich.
„Ja, sie sollte dir auch nichts davon erzählen“, antwortete er.
„Hattet ihr vorher schon Kontakt“, fragte ich.
„Nein, war auch zum ersten Mal wieder da.“ Ich nickte, um zu zeigen, dass ich verstand.
„Du leitest eine Boutique, hab ich gehört?“, erkundigte er sich.
„Nein, nicht ganz, ich bin Verkaufsleiter. Geschäftsführer ist Herr Thomann“, erklärte ich.
„Wie heißt der Geschäftsführer?“, fragte er und klang fast erschrocken. „Thomann, Bernhard Thomann“, antwortete ich und wunderte mich, wieso er plötzlich so ernst wurde. „Wieso fragst du?“, fragte ich.
„Ach, ich hatte den Namen nur nicht richtig verstanden und war neugierig, nichts weiter“, gab er zurück.
„Ach so“, sagte ich, war zwar nicht so ganz von seiner Antwort überzeugt, dachte aber nicht weiter darüber nach.
„Und was machst du so jetzt?“, fragte ich.
„Es geht mir wieder gut“, erzählte er. „Ich konnte mein Alkoholproblem wieder in den Griff kriegen, worüber ich auch froh bin. Ich arbeite auch wieder, ich hab mich vor ein paar Jahren selbständig gemacht, hab jetzt eine Schreinerei, und es läuft ganz gut.“
„Das ist doch schön“, sagte ich.
„Ich weiß, ich hab damals alles falsch gemacht, aber ich hab einfach nichts mehr auf die Reihe gekriegt, ich weiß, es ist keine Entschuldigung, aber ich bin damals mit meinem eigenen Leben nicht mehr fertig geworden. Ich wollte, ich könnte alles wieder rückgängig machen, aber ich kann es nicht. Ich bin froh, dass du mich nicht gleich wieder weg gejagt hast.“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich glaubte ihm, dass es ihm leid tat, aber ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Es war einfach viel zu viel Zeit vergangen. Dann musste ich daran denken, dass ich nach Pias Tod selbst total am Ende war und nichts mehr mit mir anzufangen wusste und beinahe selbst dem Alkohol verfallen war. Aber ich hatte andererseits keinen Sohn, um den ich mich kümmern musste.
„OK“, sagte ich nur.
„Ich hab das von deiner Freundin gehört“, sagte er. Ich schluckte. Warum musste er mich darauf ansprechen.
„Tja, da ist uns beiden wohl Ähnliches passiert“, sagte ich.
„Vermisst du sie noch?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich.
„Ist sie das?“, fragte er und deutete auf das Foto, das auf dem Wohnzimmerschrank stand. Ich nickte.
„Darf ich es mal sehen?“, fragte er dann. Ich nickte wieder.
Er stand auf und ging zum Schrank, um sich das Foto anzusehen.
„Sie ist wirklich hübsch“, fand er. „Es tut mir leid, was passiert ist.“
„Danke“, sagte ich.
„Oma wollte dich da nicht drauf ansprechen, weil es vielleicht nicht gut ist, wenn du daran erinnert wirst, sie sagte, ich sollte dich daher auch nicht darauf ansprechen. Ich wollte es eigentlich auch nicht tun, aber als ich das Foto auf dem Schrank stehen sehen hab, hab ich mir schon gedacht, dass du noch an sie denkst“, erklärte er.
„Schon okay“, sagte ich.
„Hast du in der Zwischenzeit wieder jemanden kennen gelernt?“, fragte er.
„Ja schon, aber sie interessiert mich nicht“, sagte ich traurig. „Und was ist mit dir? Bist du wieder verheiratet oder hast eine Freundin?“, wich ich aus.
„Ja, ich habe seit einem Jahr wieder eine Freundin“, erzählte er. „Ich hatte auch immer gedacht, ich würde nie über Mutters Tod hinwegkommen, erst als ich meine Alkoholphase hinter mir hatte und anfing, mich selbständig zu machen, hab ich wieder zurück ins Leben gefunden. Sie arbeitet bei der Bank, ich hab sie kennen gelernt, weil sie für mich als Beraterin zuständig war.“
„Wie heißt sie?“
„Martina.“
„Und wie alt ist sie?“ „43.“
„Wohnt ihr zusammen?“
„Nein, ich wohne allein. Vielleicht ziehen wir irgendwann mal zusammen, aber wir wollen erst einmal abwarten.“
„Viel Glück“, sagte ich.
Einerseits interessierte es mich schon, was das für „eine“ war, aber andererseits hatte ich nicht unbedingt Bedarf daran, sie kennen zu lernen.
„Danke“, sagte er. „Aber ich vermisse Mutter auch noch oft“, sagte er dann. „Ich auch“, erwiderte ich. „Wohnst du noch in Dortmund?“
„Ja, in Westerfilde, du kannst mich, wenn du willst, gern mal besuchen“, schlug er vor.
„Ja, kann ich machen“, gab ich zurück. Sehr überzeugend klang es wohl nicht, aber wie auch, ich hatte mit dieser Begegnung überhaupt nicht gerechnet. Wir wussten beide nichts mehr zu sagen.
„Und musst du morgen arbeiten?“, fragte er dann.
„Ja, du auch?“, antwortete ich. Er musste auch.
„So, ich glaub, ich mache mich mal langsam wieder auf den Weg, ich wollte nur einfach mal auf den Sprung hereinkommen“, sagte er dann und stand auf.
Ich stand mit auf, um ihn zur Tür zu bringen.
„Es hat mich gefreut, dich wieder zu sehen, ich hatte schon Angst, dass du mich wieder wegschickst“, sagte er, als wir an der Tür standen.
„Möchtest du meine Telefonnummer, falls du mal anrufen willst?“, fragte ich dann.
„Ja, gern“, freute er sich.
Ich holte eine Visitenkarte und gab sie ihm.
„Danke“, sagte er. Dann verabschiedeten wir uns.
Ich konnte nicht einfach abschalten, nachdem er gegangen war. Sein Besuch beschäftigte mich noch den ganzen Abend. Ich wusste nicht, ob ich mich, nachdem ich ihn über zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, über seinen plötzlichen Besuch freuen sollte oder nicht. Er war nicht einmal lange bei mir, vielleicht gerade mal eine halbe Stunde. Ich versuchte mich auch, in seine Lage zu versetzen. Er hatte nicht gewusst, wie er sich verhalten sollte, aber er schien ein Interesse daran zu haben, seinen Fehler wieder gut zu machen. Vielleicht sollte ich ihm einfach eine Chance geben. Ich beschloss es zu tun. Wenn er sich melden sollte, könnten wir uns ja wieder sehen, und vielleicht würde es ja irgendwann wieder so werden wie früher, oder zumindest annähernd. Aber was hatte ihn nur dazu bewegt, gerade jetzt wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Wie er sagte, hatte sich sein Leben vor ein paar Jahren wieder normalisiert, warum nicht schon damals? Klar, er hatte Angst, aber warum konnte er jetzt plötzlich seine Angst überwinden? Ich war echt gespannt, ob er sich wirklich wieder melden würde.

Am nächsten Tag war musste ich wieder zur Arbeit. Doch, ich hatte den Kopf nicht frei. Ich musste sowohl an den Besuch meines Vaters als auch an die Sache mit Kirsten denken. Es war, womit ich gerechnet hatte, viel Büroarbeit zu erledigen. Für Kundenkontakt blieb wenig Zeit.
Um zehn Uhr kam Herr Thomann. Es war die übliche Routinebesprechung, nichts Neues. Dann fragte er mich, wie mein Londonbesuch gewesen war. Ich sagte, dass es schön gewesen war. Er bat mich, bei Gelegenheit, falls ich Fotos gemacht haben sollte, sie mal mitzubringen. Ich sagte, ich täte es gern.
Der erste Arbeitstag machte mir überhaupt keine Freude. Ich dachte auch viel über meinen Job an sich und über mein Studium nach. Ich hatte in der letzten Zeit recht wenig für mein Fernstudium getan. Eigentlich brauchte ich den Abschluss nicht, aber ich wollte es trotzdem zu Ende bringen, selbst wenn es nur meinem Ego gelten sollte. Und von meiner Position zurücktreten sollte ich auch nicht, ich würde dann wahrscheinlich nicht genug Geld verdienen, um in Köln zu leben.
Pünktlich zu Geschäftsschluss machte ich auch Feierabend. Ich fuhr zu Pias Grab. Ich erzählte, dass ich bei Kirsten war, aber nicht, dass ich Sex mit ihr hatte. Dann erzählte ich ihr, dass mein Vater mich besucht hatte und wie ich mich fühlte.
Als ich mich umdrehte, sah ich plötzlich, dass auch Melanie da stand, ich hatte sie gar nicht kommen hören. Ich zuckte zusammen, als ich sie sah, weil es mir peinlich war, dass sie dann ja mitbekommen hatte, wie ich am Grab mit meiner toten Freundin gesprochen hatte. Außerdem war ich überrascht, sie ausgerechnet dort zu treffen. Sie hatte ihre Haarfarbe geändert, vorher waren sie dunkelbraun, nun waren sie schwarz gefärbt.
„Hallo“, sagte sie.
„Hallo, wie lange stehst du denn schon hier?“, fragte ich.
„Vielleicht zwei Minuten. Ich wollte dich nicht stören“, antwortete sie. „Es musst dir nicht peinlich sein, manchmal rede ich auch mit ihr“, sagte sie dann. Es beruhigte mich, dass sie mich nicht für bescheuert hielt.
„Ja, ich rede oft mit ihr, auch wenn sie es wahrscheinlich sowieso nicht hören kann“, erzählte ich.
„Und wie geht es dir so?“, fragte sie dann.
Das fragte sie mich jetzt plötzlich, als ich sie zufällig traf, nachdem sie sich einen Dreck um mich gekümmert hatte, als ich sie unbedingt brauchte und sich zwei Jahre danach nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet hatte. Jetzt war doch ein guter Zeitpunkt, sie zu ignorieren oder ihr meine Meinung zu sagen, nämlich dass ich nun auch keine Lust mehr hatte, mich mit ihr zu unterhalten.
„Ganz gut, und dir?“, erwiderte ich stattdessen.
„Mir auch, danke“, antwortete sie.
„Seit wann sind deine Haare schwarz?“, fragte ich.
„Seit vier Monaten etwa“, sagte sie und lächelte fast.
„Sieht gut aus, steht dir gut“, sagte ich.
„Danke“, sagte sie, jetzt lächelte sie wirklich ein wenig.
Es war schon ein komisches Gefühl, nach zwei Jahren wieder mit ihr zu reden. „Und was machst du so? Machst du noch die Ausbildung, die du damals angefangen hast?“, erkundigte ich mich.
„Ja, ist jetzt mein drittes Lehrjahr, läuft ganz gut?“, erzählte sie. „Und du? Arbeitest du noch in der Boutique?“
„Ja, nebenbei mache ich ein Fernstudium in BWL.“
„Nicht schlecht“, meinte sie.
„Ja, ich muss auch schon wieder weiter“, meinte sie plötzlich darauf. „Mach ´s gut, vielleicht sieht man sich bald mal wieder“, sagte sie noch und ging los.
Ich hatte gedacht, ich könnte mich mit ihr aussprechen, und schon war sie wieder weg. Und wie schnell sie weg war, von einer Sekunde auf die andere plötzlich, sehr seltsam. Da sah ich Pias Vater. Dann war er wahrscheinlich der Grund, warum sie plötzlich so eilig aufgebrochen war, sie hatte ihn wohl kommen sehen und wollte ihm nicht über den Weg laufen. Sie hatte nahm nämlich auch einen anderen Weg als er. Er hatte mir gerade noch gefehlt, nicht nur weil er mir die Möglichkeit vermasselt hatte, mich mit Melanie auszusprechen, sondern weil ich ihm auch nicht gerade begegnen wollte, aber es war zu spät für mich, um auch abzuhauen, denn er hatte mich schon gesehen.
Er ging langsamer als er mich sah, zögerte ein wenig, kam aber doch auf mich zu.
„Martin“, sprach er ein wenig erstaunt.
Ihn sah ich jetzt seit der Beerdigung zum ersten Mal wieder.
„Herr Reindel“, erwiderte ich grüßend.
„Lange nicht mehr gesehen“, stellte er fest.
„Ja“, sagte ich nur.
„Ich erinnere mich noch, was du auf der Beerdigung zu mir gesagt hast“, sagte er. „Du hattest Recht.“
Er konnte sich wohl nicht entscheiden, ob er mich siezen oder duzen sollte. „Wobei genau?“, fragte ich.
„Nun, damit dass ich alles falsch gemacht hab, und dadurch Pia, meine einzige Tochter verloren hab. Aber leider hab ich erst hinterher, viel zu spät, meine Fehler bemerkt“, erklärte er traurig.
Eine späte Einsicht, aber dennoch besser als gar keine Einsicht, auch wenn das Pia nicht mehr zurückbrachte.
„Leider merken wir alle oft erst hinterher, dass wir Fehler gemacht haben. Aber eigentlich waren nicht Sie das wirkliche Problem, sondern Ihre Frau“, entgegnete ich dann.
„Ich habe mich von ihr getrennt“, gab er bekannt.
„Eine kluge Entscheidung“, lobte ich ihn.
„Ja, das war es, irgendwie habe ich mich zu viel von ihr beeinflussen lassen“, stellte er fest. Genau das, was Pia uns erzählt hatte.
„Pia hatte es auch immer gesagt. Bianca und Melanie mochten diese Frau auch nicht“, gab ich zu. Sein Nicken darauf ließ erkennen, dass er es einsehen konnte. „Mich wahrscheinlich auch nicht“, sagte er dann. „Ich hab gesehen, dass du mit Melanie zusammen hier warst und wie sie gegangen ist, als sie mich gesehen hat.“
„Nein, wir waren nicht zusammen hier, wir haben uns hier zufällig getroffen, ich hatte mit ihr auch schon zwei Jahre keinen Kontakt mehr“, erläuterte ich.
Jetzt merkte ich erst mal, was es für ein Zufall war, dass ich beide, nachdem ich seit etwa zwei Jahren nichts mehr mit ihnen zu tun hatte, an demselben Tag zur selben Zeit am selben Ort traf.
„Vielleicht können wir ja auf einen Kaffee gehen, ich lade dich gern ein“, schlug er vor. Ich wollte nicht unhöflich sein, daher nahm ich an.
Wir redeten natürlich viel über Pia, was mir nicht leicht fiel. Warum ich zu Melanie keinen Kontakt mehr hatte, wollte er auch wissen, aber ich erzählte ihm nicht, wie es war, ich sagte einfach, dass ich es nicht wisse, was ja eigentlich nicht ganz falsch war. Ich verzieh ihm, dass er mit Schuld daran hatte, dass Pia tot war, und ich war sicher, Pia würde es auch tun, wenn sie mitbekommen sollte, wie er sich Vorwürfe machte. Eigentlich stand er genauso einsam da wie ich: er war von seiner ersten Frau, Pias Mutter geschieden, hatte seine Tochter verloren und hatte sich von seiner zweiten Frau getrennt. Auch wenn seine zweite Frau kein Verlust war, aber dass er feststellen musste, wie schlimm sie war, war mit Sicherheit ein Verlust.
Wenn ich doch nur noch die Gelegenheit gehabt hätte, mich länger mit Melanie zu unterhalten. Wenn sie auch Pia an ihrem Grab besuchte, bedeutete es, dass sie ihr gegenüber doch keine falsche Freundin gewesen war, wieso sollte sie sonst an ihrem Grab gewesen sein. Natürlich bedeutete das noch lange nicht, dass sie mir gegenüber eine wahre Freundin gewesen war, aber Hauptsache sie war es Pia gegenüber gewesen.
Ich musste abends erst einmal ein Bier trinken, weil ich so aufgedreht war. Gestern hatte ich meinen Vater zum ersten mal wieder gesehen, und heute Melanie. Und ich hatte mit beiden gesprochen, und auf beide hatte ich so eine Wut gehabt. Wie es Bianca wohl ging, was sie wohl machte. Ich hatte Lust mich bei ihr zu melden, gern hätte ich ihr erzählt, dass ich Melanie getroffen hatte, aber ich ließ es bleiben. Sie lebte vielleicht inzwischen mit ihrem Freund zusammen, da würde ich jetzt wahrscheinlich stören. Ob Melanie auch einen Freund hatte? Mit Sicherheit. Nur ich war allein. Ich trank eine zweite Flasche Bier. Meine Oma rief in dem Moment an, sie sprach auf meinen Anrufbeantworter, sie wollte wissen, was es so Neues gebe. Damit meinte sie wahrscheinlich, ob mein Vater da gewesen war, wollte wohl nur nicht so direkt fragen, falls er noch nicht da gewesen war. Ich beschloss sie am nächsten Tag zurückzurufen. Ich hatte in dem Moment einfach keine Lust zu reden.
Ich machte Musik an. Ich ließ ein Lied spielen, dass ziemlich oft gespielt wurde, als Pia und ich zusammen waren und wir beide gut fanden. Ich drehte die Musik richtig laut auf, dabei trank ich meine dritte Flasche Bier. Ich merkte, wie der Alkohol wieder zu wirken begann. Ich döste vor mir hin.
Plötzlich klingelte und klopfte es an der Wohnungstür. Es war meine Nachbarin, diejenige, die Sebastian vertrieben hatte. Hinter ihr stand auch ihr Mann. Beide sahen sehr verärgert aus.
„Sind Sie verrückt geworden? Machen Sie die Musik leiser, das ist doch hier keine Diskothek!“, schimpfte sie.
Erst jetzt realisierte ich, wie laut die Musik wirklich war.
„Oh entschuldigen Sie, Sie haben Recht, ich werde es sofort abstellen“, sagte ich.
„Ja gut“, sagte sie. Sie schien zu merken, dass ich gar nicht richtig bei der Sache war und sah mich ein wenig besorgt an.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte sie mich dann.
„Oh ja, doch. Es war nur ein harter Tag, ich war gerade irgendwie fast eingeschlafen und hab daher gar nichts richtig wahrgenommen“, erklärte ich. „Kann ja mal vorkommen, stellen Sie die Musik einfach nur ein wenig leiser“, sagte sie dann und wünschte mir noch einen schönen Abend. Ich stellte die Musik ab und ging schlafen.
Ich träumte, Melanie, Kathy und Kirsten waren bei mir und begannen fort zu schweben. Ich streckte meine Hand nach ihnen aus, doch sie sahen mich nur eiskalt an und entfernten sich immer mehr. Dann war da noch Sebastian, der mich darauf anfing zu umarmen und zu küssen. Vor Schreck wachte ich auf. Das war kein Traum, das war ein Alptraum. Und einen kurzen Moment, vielleicht ein paar Sekunden nachdem ich aufgewacht war, klingelte das Telefon, allerdings nur einmal. Ich sah auf die Uhr, es war viertel vor eins. Ich hatte schon so einen Verdacht, wer da angerufen hatte.

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Kommentare zu diesem Text


 Omnahmashivaya (08.01.08)
Die Begegnung mit dem Vater finde ich besonders beeindruckend und interessant. Schön, wenn man sich wiedersieht und sich auch ein bisslerl zu sagen hat. Lg Sabine
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