Der Zauberbaum

Märchen zum Thema Mensch und Natur

von  Momo

Vor langer, langer Zeit zog eine junge schöne Frau mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in ein großes altes Haus. Hinter dem Haus gab es einen wunderschönen Garten mit Blumen und allerlei Sträuchern und Hecken, die aus dem Garten ein kleines verwinkeltes Paradies für Vögel, Igel und anderes Getier machten, aber auch die Kinder konnten in ihm großartig toben und spielen. Und mitten in diesem Garten, ziemlich nah beim Haus, standen zwei große alte Lindenbäume. Sicher waren sie einmal vom Besitzer des Hauses vor langer Zeit gepflanzt worden, um das Haus zu beschützen. Sie hatten ein mächtiges Blätterdach und obwohl die Bäume in einigem Abstand zueinander standen, konnten sich ihre Blätter berühren und ihre Zweige und Äste waren kaum voneinander zu unterscheiden. Im Sommer, wenn die Bäume Lindenblüten hervorbrachten, war die Luft erfüllt von ihrem süßen Duft und ganze Bienenvölker schwirrten hin und her, damit beschäftigt, ihre süße Fracht einzusammeln und heimzubringen.

Die junge Frau fühlte sich wohl in der Nähe der Bäume. Gerne ruhte sie sich im Liegestuhl in ihrem Schatten aus. Dann schaute sie nach oben ins flirrende, sanft säuselnde Blättermeer, in dem Lichtflecken hin und her tanzten und sie fühlte Dankbarkeit, sich unter seinem kühlenden frischen Blätterdach ausruhen zu dürfen. Wenn sie im Haus zu tun hatte, konnte sie von ihrem Arbeitsplatz in der Küche die Zweige eines Baumes sehen, die er bis in den Innenhof hineinstreckte. So sah sie auch hier seine sacht wiegenden Zweige, auf denen sich hin und wieder Vögel ausruhten oder ein Lied zwitscherten. Der Innenhof, der ansonsten ziemlich kahl und hässlich war, wurde durch ihn zum Leben erweckt und begrünt.

So gingen die Jahre ins Land. Die Kinder wurden älter, sie spielten nicht mehr so oft im Garten. Sie fuhren lieber mit ihren Fahrrädern zu Freunden oder in die Umgebung und wenn sie heimkamen, stellten sie ihre Fahrräder an den dicken Stamm einer der alten Linden. Die junge Frau war auch älter geworden. Ihr Mann wohnte nicht mehr bei ihnen, er war ausgezogen und so lebten sie und ihre Kinder nun alleine in dem Haus. Tag für Tag verrichtete sie die vielen kleinen und großen Arbeiten, die getan werden mussten, damit alle angenehm leben und sich wohl fühlen konnten. Sie vergaß langsam, wie es gewesen war, als sie noch jung und ungebunden ihre Zeit verbracht hatte.
Aber jedes Jahr, wenn der Sommer kam, ließ sie sich von dem Duft und dem Zauber der Bäume verführen. Dann verbrachte sie viele Stunden im Garten unter den weit ausladenden, grünen Zweigen der alten Bäume

Eines Tages hatte sie einen Traum von einer jungen Frau, die durch das offene Fenster ihre Kinder zum Essen rief. Sie sah den dicken, borkigen Stamm eines alten Baumes vor dem Fenster, in den Kinderräder, die an ihn lehnten, eingewachsen waren.
Plötzlich wusste sie, dass dieser Baum noch einen Zwillingsbruder hatte, der ihr ganz allein gehörte. Ihren Baum konnte sie durch eine lange schmale Allee erreichen, an deren Ende er stand. An ihn war eine Schaukel angebracht und wenn sie sich auf die Schaukel setzte, konnte sie mit ihm überall hin fliegen, wohin sie wollte. Es war ihr Zauberbaum.

Von nun an machte sie mit ihm die abenteuerlichsten Reisen, meistens nachts, aber auch manchmal während des Tages, wenn sie ein wenig Zeit hatte. Sie gelangte mit ihm an wunderschöne Orte, an denen bisher noch kein Mensch vor ihr gewesen war. Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie geglaubt, dass nur Geister, Feen und Fabelwesen dort leben könnten, dass sie aber für Menschenwesen verschlossen waren. So erlebte sie selige und beglückende Stunden. Der Zauberbaum weihte sie ein in große Geheimnisse, die nur Menschen erfahren durften, die sich ihrer Wert erwiesen hatten, und das waren von Anbeginn der Zeit nur wenige.

Dann kam eine Zeit, in der ihr der Zauberbaum auch Orte zeigen wollte, die nicht so schön und freundlich waren. Sie wurden von allen guten und wohlwollenden Wesen im Zauberland gemieden. Aber der Zauberbaum bestand darauf, sie auch zu diesen unwirtlichen und freudlosen Orten zu tragen, damit sie sein ganzes Land kennen lernen konnte, das er bewohnte.
Er hatte den Auftrag von seinem König bekommen, sie zu jedem Ort seines Zauberlandes zu begleiten, den sonnigen und den dunklen, damit sie seine Bewohner kennen lernen und sich mit ihnen vertraut machen konnte. Seit einiger Zeit schon wurden nämlich die Wesen, die in den dunkleren Gefilden des Landes zu Hause waren, immer aggressiver und bedrohlicher. Es hieß, dass sie immer öfter ihre Grenze überschritten und die guten freundlichen Wesen bedrohten und ihnen Böses antaten.
In den alten Weissagungen stand geschrieben, dass nur ein Menschenwesen, und zwar eine Frau, die reinen Herzens und bereit war, ihr Leben einzusetzen, hier Abhilfe schaffen konnte.
Der Zauberbaum war überzeugt, die richtige Frau gefunden zu haben. Sie war diejenige, die zwar nicht die alten Grenzen wieder herstellen konnte, aber sie konnte mit ihrem reinen Herzen die aggressiven und bösen Geistwesen berühren und dadurch verwandeln. So würden viele, deren Herzen verstockt und hart geworden waren, wieder mitfühlende und liebevolle Wesen werden.
Jedoch nicht alle waren noch fähig und willens, sich zu ändern. Das waren die Kreaturen, die sich für immer dem freudlosen dunklen Teil des Reiches verschrieben hatten und diese würden um ihre Existenz kämpfen, das wusste er. Sie würden nicht tatenlos zusehen, wie ihre Welt sich so veränderte, dass es für sie unmöglich sein würde, dort weiter zu existieren. Wenn diese Zeit gekommen war, stand das Zauberland kurz vor einem Krieg, der vielleicht auch auf das Erdenland übergreifen konnte.
Die Frau, seine Freundin, durfte von all dem vorerst nichts erfahren. Er fürchtete, dass sie vor der Last der Verantwortung zurückschrecken und sich zu sehr fürchten könnte vor den Aufgaben, die ihr bestimmt waren.

Das war der Grund, dass ihre gemeinsamen Reisen immer öfter in eine Welt führten, in die freiwillig niemand gereist wäre. Aber die Frau verstand, dass sie ihrem Zauberbaum seine Bitte nicht abschlagen konnte, da sie auch schon so viele wunderschöne Stunden mit ihm verbracht hatte. Und mit der Zeit begriff sie auch die ganze Situation, in der sich die Zauberwelt befand. Willig löste sie Aufgabe für Aufgabe, die sich ihr stellte und vertraute dabei ganz auf den Zauberbaum. Nie zweifelte sie daran, dass sie, wohin er sie auch brachte und bei allem, was sie tat, durch ihn beschützt war und ihr darum nie wirklich etwas Böses geschehen konnte.

So verging eine lange Zeit. Die Frau und der Zauberbaum reisten nun immer seltener in die Zauberwelt und eines Tages kam der Tag, an dem er ihr sagte, dass ihre gemeinsamen Aufgaben jetzt erfüllt waren. Nun würden andere Aufgaben auf sie warten, die sie alleine bewältigen musste. Wann die Zeit dafür gekommen war, würde sei beizeiten erfahren.

Die Kinder der Frau waren darüber fast erwachsen geworden, aber sie wohnten immer noch in dem alten großen Haus mit dem schönen verwinkelten Garten.
Der Besitzer des Hauses war gestorben und nun hatte seine Tochter seinen Besitz übernommen. Diese war eine herrschsüchtige Frau, die keine Augen hatte für die Schönheit des alten Gartens mit seinen Sträuchern und Hecken, großen Rhododendrenbüschen und alten Bäumen.

Eines Tages, der Winter war gerade vergangen, sprach sie zu der Frau von ihrem Plan, die Kronen der zwei alten Lindenbäume absägen zu wollen. So würden sie weniger Dreck machen und man hätte keine Arbeit mehr mit ihnen.
Da wurde das Herz der Frau schwer. Die Bäume waren in all den Jahren zu ihren Freunden geworden und darum setzte sie nun alles daran, die Verstümmelung ihrer alten Lindenbäume zu verhindern.
Schließlich durften die Bäume ihre Krone behalten, aber eines Tages kamen Arbeiter mit Kreissägen, die alle ausladenden Zweige und Stämme absägten, bis die Bäume ihr Blätterwerk nur noch spärlich ganz weit oben in den Himmel strecken konnten.
Vorbei war die Zeit, in der man sich unter ihren Zweigen im Schatten ausruhen konnte. Nun gab es keine wiegenden Äste mehr, die den Innenhof begrünten und keine Bienenvölker, die sich an den Lindenblüten gütlich tun konnten.

Noch bevor es Frühling wurde, beauftragte die neue Besitzerin des alten Hauses Arbeiter, um alle anderen Bäume, Sträucher und Pflanzen des alten Gartens zu beseitigen. Wahllos sägten sie alles ab, was ihnen vor die Säge kam. Als sie nach einigen Tagen abzogen, hinterließen sie eine verwüstete kahle Fläche, auf der lediglich hin und wieder ein zurückgelassener Baumstumpf stumm und anklagend in die Luft ragte. Ungleichmäßig türmten sich Berge von abgeschnitten Pflanzen und Sträuchern zu Haufen auf der ebenen schwarzen Erde.

Da verstand die Frau, dass jetzt der Krieg im Zauberland begonnen hatte, von dem ihr der Zauberbaum erzählt hatte. Sie nahm Abschied von ihren zwei alten Lindenbäumen, die sie noch hatte retten können und verließ den Ort, den sie einmal so sehr geliebt hatte, um sich den neuen Aufgaben zuzuwenden, die auf sie warteten.

Manchmal, wenn es Sommer ist, reist sie noch mit ihrem Zauberbaum in längst vergangene Zeiten. Dann schließt sie die Augen und sie spürt eine leichte Brise, sieht wieder über sich das grüne flirrende Blätterdach, in dem die Lichtkringel tanzen und riecht den süßen Duft der Lindenblüten, die sich in Dolden zu ihr hinunterneigen.


Anmerkung von Momo:

Ein Märchen über die Natur, die alles lebendig macht und die Gefahr, die darin liegt, sie zu zerstören, denn, alles hängt mit allem zusammen, so dass Oben dem Unten gleicht und umgekehrt.

Und - auch ein Märchen über Heilung, die auch im ganz profanen Alltag möglich ist, wenn man Liebe in sich trägt.

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Kommentare zu diesem Text

aureliano (36)
(11.10.08)
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 Momo meinte dazu am 12.10.08:
Hallo aureliano,
ich habe (und hatte) auch das Gefühl, dass ich da noch mal ran muss, ist noch nicht richtig rund.
Ich danke dir für deine Anregungen und für deine Auseinandersetzung mit dem Text.

Liebe Grüße
Momo
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