Die Sehnsucht eines Menschen

Geschichte

von  Unbegabt

Ein Mensch.
Weiblich. Sehr alt, und sehr jung.
Jemand der verzweifelt Spuren hinterlassen wollte.
Später, nach ihrem Tod, stritten sich ihre Bekannten, (Freunde hatte sie keine) ob sie schon alt oder noch jung gewesen wäre. Tatsächlich wusste dies niemand mit Gewissheit zu beantworten.
„Sie war über 50. Ich muss es wissen, ich bin ein Freund eines Freundes von ihrer Halbschwester.“, sagte einer.
„Nein, nein, sie war höchstens 18. Ehrlich, ich weiß es ganz sicher, ich habe oft mit ihrer Halbschwester telefoniert.“, rief jemand anderes.

„Rose!“
Keine Antwort.
„ROSE!“
Stille.
Rose hört ihre Mutter wutschnaubend die kurze Treppe zu ihrem Zimmer hoch schnaufen.
10... 9...
Sie stülpt sich ihre Kopfhörer über die Ohren.
8... 7...
Die Musik wird bis zum Anschlag aufgedreht.
6... 5...
Nur noch 5 Sekunden... nein;
4...
Sie hasst laute Musik.
3... 2...
Die Tür wird aufgestoßen und hinterlässt ein weiteres Loch in der Wand.
„Sie ist schneller gelaufen als sonst.“, denkt Rose ehrlich beeindruckt.
„Rose! Ich hasse es, wenn du das machst. Komm endlich aus deiner Gedankenkirmes heraus, sofort. Es gibt Essen.“
„Gleich Mutter. Ich möchte noch zu Ende Karussell fahren.“
Ihre Mutter schenkt ihr nichts weiter als einen ungläubigen Blick.
Das war einer der wenigen Momente wo Rose zynisch wurde, nur um zu zeigen, dass sie auch anders konnte, sie wollte nur nicht.

Meistens ist ihre Stimme so leicht wie der Wind der einem etwas zu flüstert. Sie hat nur ein Talent: sie kann unsichtbar sein. Nicht mithilfe von Feenstaub, wie es manchmal in Märchen erzählt wird. Nein, sie kann sich so unauffällig verhalten, dass niemand auf sie achtet. Wirklich niemand. Manchmal ist das nützlich, aber oft will sie rufen: „Hier, hier bin ich! Seht doch her, nur ein einziges Mal!“
Aber sie ruft natürlich nicht, das wäre peinlich. So peinlich, dass sie auswandern müsste, oder ähnliches.
Deswegen hat sie etwas beschlossen: sie will Spuren hinterlassen, damit sie nach ihrem Tod nicht vergessen wird.
Rose ist kindlich, auch später noch.
Sie glaubt an Dinge, von denen sie eigentlich wissen müsste, dass sie nicht funktionieren werden. So geht sie jeden Winter durch den Schnee, blickt stolz auf ihre kleinen Fußspuren und flüstert (obwohl sie schreien möchte): „Jetzt habe ich meine Spuren hinterlassen.“
Doch - wie soll es auch anders kommen - schmilzt der Schnee ein ums andere Mal und mit ihm ihre so sorgfältig gesetzten Spuren. Sie versucht es natürlich weiter, sie ist unerschütterlich.
Mit annähernd wütenden Schritten zwingt sie jedem schlammigen Feldweg ihre Spuren auf. Doch selbst sie, die Unerschütterliche, kann den Regen nicht aufhalten - ihre Spuren schwimmen dahin.
Sie versucht es mit einem Tagebuch, oder so etwas in der Art. Eigentlich ist es kein Tagebuch. Nur ein schmuddeliges Buch, auf dessen Seiten immer der gleiche Satz steht.
„Ich hinterlasse meine Spuren. Rose M.“ Aber doch kann man viel von ihrem Tag in diesem Satz lesen.
Auf der ersten Seite sieht die Schrift klar und bemüht schön aus.
Natürlich, am Anfang muss man doch einen guten Eindruck machen. Das denkt sie sich dabei. Doch mit den Monaten wird ihre Schrift ihren Gefühlen angepasst.
Am 12. Juni ist ihre Schrift zornig nach hinten gebeugt. Dagegen am 29. August weich und voller Zufriedenheit. Daraus würde ihr Tag entstehen, bei jedem im Kopf selbst, der diesen Satz las.
Aber Rose hatte auch einen Fluch: sie war unordentlich und schusselig. Sie verlor ihr Tagebuch.
(Später stellte sich heraus, dass es unter einem Haufen verlorener Gedanken lag.)
Zu diesen Zeitpunkt weiß Rose davon gar nichts, ahnt es nicht mal. Sie irrt durch die Straßen und fragt immer wieder leise: „Wo sind meine Spuren? Wo sind meine Spuren? Bitte, wissen Sie wo meine Spuren sind?“
Sie wird nicht gehört und nicht gesehen. Und so - mit verschleiertem Blick durch den Verlust ihrer Spuren - lief Rose direkt auf die Felsen zu und sah die tiefe Spalte, die jäh vor ihr aus der Dunkelheit aufklaffte zu spät,
und stürzte.


Anmerkung von Unbegabt:

Danke an  Lii für den Namen. :)

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Kommentare zu diesem Text


 Mutter (14.01.09)
Ah, den finde ich Klasse ...
Da sind super schöne Bilder drin, und die Idee mit der sich verändernden Schrift im Tagebuch mit dem immer gleichen Satz ist großartig.
Sehr schön.

Einzig der letzte Satz stört mich. Der wird dem Text irgendwie nicht gerecht, ist holpriger als der Rest.

Gruß, M.
(Kommentar korrigiert am 14.01.2009)

 Unbegabt meinte dazu am 15.01.09:
Danke. :)

Ich habe ihn heraus genommen, er sollte eigentlich auch nur ausdrücken, dass sie es nicht schaffte ihre Spuren zu hinterlassen.

 Secretgardener (14.01.09)
Schon nach dem ersten Absatz war mir klar, daß ich den hier empfehlen will... Und hey, ich hab´ das sogar verstanden mit dem Bezug zum ersten Absatz (´ne Ahnung hatte ich nach dem 2. und die Gewissheit nach dem 3. Absatz). ^^
Stil und Inhalt, wirklich wieder mal was anderes, kein Einheitsbrei, mit dem man sich nicht identifizieren kann.
Spuren hinterlassen ist wohl ein Thema, das viele kennen, ich wohl auch, und trotzdem liest es sich so "frisch" (ja, blödes Wort dafür).

Wie sie runterzählt, sehr toll. Und "ehrlich beeindruckt" finde ich wundertoll. In solch einer Situation jemandem zu gratulieren, das zeigt schön die Absurdität und Nichtigkeit, die manche Menschen ausstrahlen.
Der Schnee und Matsch gefällt mir auch sehr. Und natürlich, daß niemand ihr Alter wußte und maximal eine Halbschwester kannte. Die Idee mit der unterschiedlichen Schrift, die man lesen muss, gefällt mir auch sehr.
"ihre Spuren schwimmen dahin." - das finde ich etwas zu stark um einfach so am Satzende zu stehen, ich würde es mit Bindestrich getrennt oder als Extrasatz besser finden, so hat er mehr Bedeutung...
"Später stellte sich heraus, dass es unter einem Haufen schmutziger Kleider lag." - schmutzige Kleider finde ich etwas zu "weltlich", mir wäre etwas wie "Haufen verlorener Gedanken" lieber. Daß das Tagebuch verloren geht finde ich auch gut, aber der Kamin ist mir auch etwas zu "weltlich".

Schön, daß Du das hier veröffentlich hast, trau´ Dir ruhig mehr zu, Du wirst wirklich immer besser. Nicht, daß Du schlecht warst, Deine Texte waren immer gut, aber jetzt werden sie noch besser und bekommen diese gewisse Leichtigkeit. Es liest sich nicht verkrampft, sondern flüßig, als ob es einfach so fließt aus Dir.
Und ich lese da etwas Maramba heraus - sehr schön. :)

Liebe Grüße, A..

 Unbegabt antwortete darauf am 15.01.09:
Du hast Recht, Maramba ist eine riesen Inspiration.

Die "Haufen verlorener Gedanken" habe ich jetzt mal geklaut. und der letzte Satz ist weg - s.o.

Auch der Bindestrich ist da. :)

Danke für die Tipps und überhaupt.

 AZU20 (15.01.09)
Ja, die Sehnsucht haben viele. Gut beschrieben. Vor allem die Spuren in Schnee und Schlamm, das Tagebuch. Super.
Den letzten Satz würde ich auch streichen. LG

 Unbegabt schrieb daraufhin am 15.01.09:
Danke. :)

Wegen dem letzten Satz - s.o.

Nele
Despo (31)
(15.01.09)
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 Unbegabt äußerte darauf am 15.01.09:
schön dasset dir jefällt.
Grüße aus der Stadt nahe der Landeshauptstadt von Niedersachsen. ;)
Lii (15)
(15.01.09)
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 Unbegabt ergänzte dazu am 15.01.09:
danke. :)

und ja, sehr schöner name. :P
Steinwolke (65)
(15.01.09)
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 Unbegabt meinte dazu am 15.01.09:
:)

Vieeelen Dank. Auch für die Autorenempfehlung.

:)))
Schriftkeil (18) meinte dazu am 21.01.09:
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 Unbegabt meinte dazu am 21.01.09:
Uh. :) 1.Danke, 2.danke, 3.danke

(;
Grufti.Ente (28)
(30.01.09)
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 Unbegabt meinte dazu am 30.01.09:
und ich bin sprachlos wegen diesem kommentar.
vielen dank, entchen.
Veritas (18)
(16.02.09)
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 Unbegabt meinte dazu am 16.02.09:
da gebe ich dir recht. völlig und ja, fast uneingeschränkt.
ein neues wort habe ich nicht, werde ich wohl auch so schnell nicht haben. aber wenn, ich sag dir bescheid.
Veritas (18) meinte dazu am 16.02.09:
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lunaris von aquanta (23)
(05.04.09)
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 Unbegabt meinte dazu am 05.04.09:
danke dir. :)
ThisWitheredSoul (20)
(13.04.09)
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 Dieter Wal (14.03.10)
Die Textmontage besteht aus drei Texten. Der erste meditiert über "eine alte Seele in einem jungen Körper" nach ihrem Tod. Der zweite ein typischer Dialog einer Jugendlichen mit ihrer Mutter (Kommt jedem Leser über 13 bekannt vor). Der dritte ausführlichste schildert die Suche der Rose nach Dauer, kreist um Identität und Einzigartigkeit. Ihr Talent ist perfekte Mimikri. Niemand bemerkt sie, wenn sie sich unauffällig verhält. Aus diesem Gedanken entwickelt der Text eine eindrucksvolle Suche nach Lebensspuren. Jetzt wird auch verständlich, warum Rose im ersten Text keine Freunde gehabt hätte. Rose wird als Person dargestellt, die sich niemandem öffnet. Außer den Lesern.

 MagunSimurgh (14.03.10)
Ich könnte gar nicht so genau sagen, was das ist, was du da geschrieben hast.

Es ist keine Kurzgeschichte, allein schon, weil es keine Menschen sind, wie man ihnen auf der Straße begegnen könnte. Jedenfalls Rose nicht.

Für eine Parabel ist es dann doch zu real und zu wenig kafkaesk für eine in Kafkas Sinne.

Es ist weder eine Schilderung, noch eine einfache Erzählung.

Selbst der weit gefasste Begriff Short Story trifft es nicht.

Dein Text entzieht sich für eigentlich völlig einer konkreten Einordnung.

Und das ist das, was so sitzt. Man kann ihn nicht in eine Schublade stecken, er braucht wenn dann einen eigenen Platz im Gedächtnis.

Liebe Grüße,
Magun
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