Herz aus Glasfaser

Erzählung zum Thema Stolz

von  Mutter

Ich sehe ihn dauernd in der Bahn, und immer belästigt er andere. Nie mich. Und so beobachte ich ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Neugier, und schaue mir mit Vergnügen an, wie andere versuchen, der Unterhaltung mit ihm zu entgehen.
Heute kommt er zu mir. Ich habe den Fehler gemacht, ein Buch mitzunehmen. Meist lese ich in der Bahn die Zeitung, oder vielleicht mal ein Magazin – und bin deswegen für ihn uninteressant. Immun, quasi.
Heute hatte ich dagegen ein echtes Buch dabei, und Bücher ziehen ihn magisch an.
Normalerweise betritt er den Wagen, erzählt kurz irgendwas über schlimme Lebensumstände und unsere Chance, zu verhindern, dass er schwerkriminell werden müsse. Indem wir ihm eines seiner Straßenhefte abkaufen, keine Ahnung, welches. Sehen eh alle gleich aus, und meistens steht auch noch dasselbe drin. Früher habe ich die öfter mal mitgenommen, in dieser Mischung aus dem Wunsch, konstruktiv sein zu wollen und einem unverhohlenen Schuldgefühl.
Aber darüber bin ich inzwischen hinweg.
Erzählt uns kurz was, völlig desinteressiert, weil eigentlich ist ihm der Teil egal. Wo wir ihm glauben, oder nicht, und er dann Kohle von uns bekommt, oder nicht. Er will was anderes.

Jedenfalls sitze ich da, beobachte ihn über mein Buch hinweg und denke wahrscheinlich unbewusst darüber nach, wen es wohl diesmal erwischen könnte. Wen er sich heute aussucht, zum Vollabern. Und als sein Blick den Waggon hinunterwandert und an mir kleben bleibt, wird mir siedend heiß klar, dass ich heute ebenfalls potentielles Opfer bin. Er sieht mich an und mir ist, als nickt er bestätigend. Scheiße, heute bin ich dran.
Die Türen gehen zu, ich komme nicht mehr raus.
Als der Zug anfährt, kommt er schwankend, sich geschickt an den Stangen festhaltend, auf mich zu.
Dann steht er vor mir, sieht auf mich herunter und sagt: ‚Hab’ ich gerne gelesen. Ist kein schlechtes Buch.’
Ich gucke ebenfalls nach unten, so, als müsste ich mich daran erinnern, was ich gerade gelesen habe. „Fleisch ist mein Gemüse“, von Heinz Strunk.
‚Ist ganz witzig geschrieben, flott, aber irgendwie fehlt was. Der Bogen, weißte? Am Ende kommt nix, iss so’n typischer Rohrkrepierer. Weißte wie?’
Ich antworte nicht, will nicht antworten. Jetzt gibt es keine Neugier mehr in mir, ich will nur noch, dass er verschwindet.
Zucke mit den Schultern.
Er lässt sich nicht beirren, fährt fort: ‚Und dieses dauernde „Abmelken“, von dem der da erzählt – geht einem doch irgendwann auf’n Sack, oder nicht? Etwa?’
Natürlich geht es mir auch auf die Nerven, die Hälfte davon hätte auch gereicht. Will ich aber nicht sagen, gönne ihm die Befriedigung nicht.
Deswegen entgegne ich einfach nichts, aber ich weiß ja schon, dass ihn das nicht stört.

Er sucht sich einen, der liest, geht zu ihm, und gibt ungefragt seine Meinung zum Buch ab. Wie es geschrieben ist, was der Autor sonst noch so gemacht hat und in welchen Lebenssituationen einem das Werk wohl am ehesten etwas sagt. Jedes Mal. Ich habe noch nie erlebt, dass er ein Buch nicht kannte, nicht gelesen hatte. Jeden Tag ein neues Opfer, ein weiteres Buch, und dieser Obdachlose kennt sie alle.
Macht offenbar den restlichen Tag, wenn er nicht bei mir in der Bahn steht, für die zwei, drei Stationen, nichts anderes als Lesen. Muss ja, woher soll der sonst die ganzen Bücher kennen?

‚Ich kannte auch mal einen, der als Mucker gearbeitet hat’, sagt er weiter und deutet auf das Buch. ‚Ist schon realistisch, was der da schreibt. Nimmt man ihm ab. Und wie gesagt, hab’s gern gelesen. Aber unter uns’, und dabei beugt er sich verschwörerisch nach vorn, ‚mehr als eins muss man von dem auch nicht lesen. Wiederholt sich alles irgendwann.’
Dann sieht er mich noch einen Moment ernsthaft an, als könne er so sicherstellen, dass ich  mir seinen Rat zu Herzen nehme, und nickt dann befriedigt. Die Bahn hält, und er steigt aus.

Am nächsten Morgen stehe ich vorm Bücherregal. Ich hatte gestern keine Lust mehr auf den Strunk, hat mir der Kerl verleidet. Vor allem, wenn’s eh alles dasselbe ist. Und kurz hatte ich darüber nachgedacht, ob ich wieder die Zeitung mitnehme. Dann bin ich ihn los.
Kann ich aber nicht – dass kommt mir feige vor. Er hätte gewonnen. Ich säße hinter dem ‚Tagesspiegel’, sähe ihn über den Papierrand an und grämte mich, dass ich keine Bücher mehr lesen kann in der Bahn.
Energisch schüttele ich den Kopf. Nein, klein beigeben kann ich auf keinen Fall. Ich muss nur was finden, was er nicht kennt. Wo er einen Blick drauf wirft, und keine beschissene Experten-Meinung zu abgeben kann. Dürfte doch nicht so schwer sein.
Endlich finden meine Finger ein dünnes Buch mit abgegriffenem Einband und ziehen es heraus. Sehr gut.

Diesmal lauere ich in gespannter Erwartung, als er die Bahn betritt. Beobachte ihn aufmerksam, ich will ja, dass er zu mir kommt. Und er kommt wirklich. Hat mich erspäht, verkürzt sogar extra seine kleine Rede und geht direkt auf mich zu.
Dann sticht sein Finger in Richtung auf das Büchlein und mein Selbstbewusstsein schwindet dahin.
‚Das mit den Fahrrädern, und ihren Besitzern – das ist echt großartig. Davon erzähle ich heute noch manchen Bekannten, die viel Fahrradfahren. Muss man vorsichtig sein.’ Er schnaubt ein kleines Lachen durch die Nase.
Als ein Sitz neben mir frei wird, lässt er sich auf die Bank fallen.
‚Der Mann ist komplett verrückt.’ Er meint Flann O’Brien. ‚Durchgedrehte Iren. Wirklich. Alleine diese Liga der Einbeinigen.’ Er schüttelt lächelnd den Kopf, ist offenbar in Erinnerungen versunken.
Innerlich fluche ich. Will, dass er geht, mich in meiner Niederlage alleine lässt. Aber es ist, als müsste er noch eine Weile auf meinem selbst-ausgehobenen Grab tanzen. Erzählt von dem Buch, von Irland, von O’Brien und von allem Möglichen. Ich versuche, nicht hinzuhören.

Zu Hause feuere ich „Der Dritte Polizist“ enttäuscht in die Ecke und brüte für einen Moment vor mich hin. Es kann doch nicht sein, dass dieser aufgeblasene Kerl jedes verdammte Buch unter der Sonne kennt. Schon alles gelesen hat.
Mit einem Ruck erhebe ich mich vom Bett und stehe erneut vor dem Bücherregal. Die Offensichtlichen sortiere ich gleich aus. ‚Der Alchimist’, ‚Die Blechtrommel’ und ‚Der Schamane’ – mit so was bekomme ich ihn wohl kaum. Habe ich ihn ja auch schon oft genug mit den anderen gesehen, die hat er alle erwischt. Das sind die üblichen Verdächtigen, die da in der Bahn gelesen werden, und die hat er alle schon eiskalt abserviert. Besonders die historischen Romane ignoriere ich komplett. Die sind ja gerade absolut in Mode, mit Ken Follet muss ich ihm wohl nicht kommen.
Vielleicht was Altes von Paul Auster? Oder eher was von den Sachen, die rauskamen, als der Hype längst vorbei war? „Die Brooklyn-Revue“ möglicherweise. Aber ich lasse das Buch stehen. Ich traue dem Auster nicht zu, dass er mich da rauspaukt. Laufe ich nur wieder auf.
Aber hinten rechts erspähe ich „Kane der Verfluchte“. Sparten-Fantasy, Bastei-Lübbe, seit Jahren vergriffen und längst nicht mehr aufgelegt. Karl Edward Wagner ist wenig bekannt in der Szene, nur absolute Spezis haben so was im Regal.
Siegessicher warte ich auf den nächsten Morgen.

‚Wagner? Mann, den habe ich ja lange nicht mehr gesehen. Bekommt man fast gar nicht mehr. Ist mir ehrlich gesagt lieber als Howard, noch schnörkelloser. Ich meine, nichts gegen Conan, das ist ganz großes Kopf-Kino, aber Wagner – der hat halt noch was mehr. Kennst du Gemmell? Ist ein wenig so was wie sein Erbe gewesen. Leider ja jetzt ebenfalls tot.’
Auf Gemell wäre ich gar nicht gekommen, aber mir wird klar, dass ich das mit der Fantasy offensichtlich gleich sein lassen kann. Kennt er sich aus. Ich seufze, aber das merkt er nicht – schwadroniert weiter über erlesene Fantasy-Literatur, diesseits wie jenseits des Atlantiks, und wie sie sich seit den Sechzigern so fundamental verändert hat.
Mir ist zum Heulen. Ich komme dem Kerl nicht bei, ich kriege ihn nicht geknackt. Aus Tränen verschwommenen Augen sehe ich, wie er mit einem scheidenden Gruß aussteigt, zufrieden. Sein Werk für heute ist getan – er hat mich wieder besiegt, mich zerstört.
Frustriert sammele ich die Reste meines Egos vom schmutzigen S-Bahn-Boden auf. Bin nahe dran, aufzugeben.

Die nächsten zwei Wochen versuche ich alles: „Leute, ich fühle mich leicht“, das letzte Buch dieser zwischen den Beinen verschwitzten Alexa Hennig von Lange, eine obskure Übersetzung eines wenig bekannten portugiesischen Dichters und „Bartleby, der Schreiber“, ein frühes Werk von Hermann Melville, das kaum jemand kennt, der das nicht im Studium hatte. Absolut Asche.
Er kennt alle. Jedes einzelne, jeden Autoren und meist auch den Rest ihrer Werke. Selbst diese Schnalle von Lange beherrscht er in- und auswendig. Dabei interessiert sich seit Jahren keine Sau mehr für die.
Verzweiflung macht sich in mir breit. Ich weiß nicht, ob ich wirklich eine Chance gegen ihn habe. Vielleicht sollte ich einfach aufgeben, mich auf den Boden der Bahn legen und die Beine spreizen - wie ein unterworfener Rüde, der sich lecken lässt.
Aber ganz soweit bin ich noch nicht. Einen Trumpf habe ich noch in der Hinterhand.
Ich höre für mehrere Wochen auf, Bahn zu fahren. Ich nehme Urlaub und den Rest der Zeit benutze ich ausschließlich Busse und das Fahrrad. Ich plane, setze minutiös meinen letzten entscheidenden Schlag gegen ihn um. Arbeite wie besessen.
Wenn der misslingt – dann würde ich ihm die S-Bahn überlassen. Ich würde das Haupt senken und einsehen, dass ich meinen Meister gefunden hatte.

Dann, im April, ist es endlich so weit. Mit regelrechtem Lampenfieber und flitternder Aufregung sitze ich in der Bahn und warte auf ihn. Wie ein junges Mädchen auf den kaum bekannten Liebhaber warten mag. Und er kommt, und nimmt mich tatsächlich sofort ins Visier, als wüsste er, dass sich unsere kosmischen Bahnen ein letztes Mal kreuzen müssen. Highnoon in der Ringbahn.
Stellt sich neben mich, versucht zu erkennen, was ich lese.
Und dann, endlich, fallen die befreienden Worte: „Herz aus Glasfaser“? Kenne ich ja gar nicht …’
Ich hatte schon befürchtet, er würde bei seiner Niederlage einfach wortlos aussteigen, mit eingekniffenem Schwanz davonrennen. Und mich so um meinen Triumph bringen.
Aber das tut er nicht.
Mit diesen Worten kapituliert er vor mir, wirft mir wie Vercingetorix bei Alesia all seine Waffen vor die Füße, und wie Cäsar nicke ich daraufhin gönnerhaft.
Eigentlich lege ich mehr den Kopf schief, wie um zu sagen: Naja, man kann ja auch nicht alles kennen.
Innerlich dagegen jubel ich, springe und hüpfe ausgelassen hysterisch gegen die Wände meines Seins.
‚Ist nicht so doll. Aber liest sich ganz gut durch’, antworte ich gelassen, ohne noch einmal zu ihm aufzusehen. Ich weiß bereits, wie ein gebrochener Mann aussieht, habe genug gesehen. Wie oft hatte ich ihn in meiner Vorstellung so stehen sehen, mit hängenden Schultern.
Als er aussteigt, schaue ich ihm dagegen scheinbar gelassen nach. Erst als die Bahn den Bahnhof  verlassen hat, erlaube ich mir einen kleinen Freudenschrei. Als ich den Arm mit geballter Faust in die Luft reiße, schaut der ältere Herr neben mir etwas befremdet. Rückt deutlich ab, als ich für einen kurzen Augenblick Luftgitarre spiele. Mich stört das nicht – soll er doch denken, was er will. Meine Nemesis ist besiegt! Die Freien Völker stehen vor der Asche Saurons!
Grundzufrieden lege ich das Buch zurück in die Tasche und rufe mir noch einmal seinen betrübten Gesichtsausdruck ins Gedächtnis.
„Herz aus Glasfaser“.

Ich sage nur: Books On Demand, du Loser, Books On Demand!

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Kommentare zu diesem Text

Angelika Dirksen (62)
(20.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 20.02.09:
Das ist ein wunderschöner Kommentar, und macht mich grinsen.
Danke Dir dafür ... :)

 AndreasG antwortete darauf am 20.02.09:
Mir bleibt nichts, als Angelika voll und ganz zuzustimmen. Das ist wirklich "Kopfkino" (wenn ich zitieren darf ...), locker geschrieben, heimlich fesselnd, mitlebbar und mit einem gelungenem Ende. Klasse!

Liebe Grüße,
Andreas

 Mutter schrieb daraufhin am 20.02.09:
Ahem ... *rotwerd*
Vielen, vielen Dank ...
Elvarryn (36)
(20.02.09)
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 Mutter äußerte darauf am 20.02.09:
Geil ... :)

Danke Dir.

M.
Kitten (36)
(20.02.09)
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 Mutter ergänzte dazu am 20.02.09:
Wusste doch, dass Dich diss freut ... :)

Danke schön - und das mit dem Titel ist clever, oder? Ging bestimmt noch mehr Leuten so ... :D
kontext (32)
(21.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 24.02.09:
Oh, glatt übersehen, wie uncharmant vor mir ...

Vielen Dank - und das mit der Paranioa, das ist nur gesund.
Danke Ihnen.

Mmmh-mmmh, letzter Satz, mmmh-mmmmh - Vorschläge vielleicht? Der hat schon ein paar Inkarnationen hinter sich ... :)
FliegendesOink (27)
(23.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 23.02.09:
Hehe, danke ... :)
Steinwolke (65)
(24.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 24.02.09:
Hehe, danke Dir - wie schon gesagt, habe ich den quasi extra für Dich geschrieben ... :)
Muss doch das Bild der Stadt/der Städter weiter pflegen ...

Wir sind hier alle Irre/irre. :D
sozusagen (31)
(04.03.09)
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 Mutter meinte dazu am 04.03.09:
Oh, wie schön, vielen Dank. :)

*edit: Ach ja, und herzlichen Glückwunsch zu Deinem Steinbock. Diss sind die Besten, echt wahr! :D
(Antwort korrigiert am 04.03.2009)
AugenBlick (32)
(24.03.09)
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 Mutter meinte dazu am 24.03.09:
Ich find' S- und U-Bahn-Fahren auch total Klasse - muss man sich nicht mal groß verrenken, um interessante Leute betrachten zu können ... :D
AugenBlick (32) meinte dazu am 24.03.09:
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Leyla (29)
(20.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 20.04.09:
Schön ... :)

Danke sehr.
ThisWitheredSoul (20)
(30.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 30.04.09:
Hehe, sehr gut, danke schön ...

Bitte. :)
Vetustus (19)
(10.06.09)
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 Mutter meinte dazu am 10.06.09:
Boah, cooles Lob. Danke schön ... :)

Und es ist tatsächlich ein 'i' ...

 bluedotexec (25.11.09)
Das ist herrlich. Da steckt so ein charmanter Witz drin, schwer zu beschreiben. Man merkt die spitze Zunge kaum, aber doch, da ist eine. Dieses Verhalten ist so typisch deutsch (Meiner Meinung nach), aber ich hab es noch nie auf Literatur übertragen gesehen. Brillant, wie so oft^^
Liebe Grüße,
Patrick

 Mutter meinte dazu am 02.12.09:
Danke, das ist ein schönes Lob ... :)

Gruß, M.
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