Ich bin immer noch dreizehn Jahre alt [An T.]

Brief zum Thema Abhängigkeit

von  Anantya

Und ich sitze immer noch auf dem Steg und der Regen wird stärker, fällt in weiten Kreisen in den grauen, aufgewühlten See, auf dem die Enten langsam außer Sicht schwimmen. Ich bin immer noch auf dem Weg zurück ins Haus, sitze noch immer auf dem Balkon auf der kleinen, runden Schaukel und höre den Regen und Musik im Regen und du bist irgendwo joggen und draußen tobt ein Sturm.

Ich bin auf dem Weg nach drinnen, ich lese, ich mache uns Kaffee, ich esse Schokolade und denke, dass du mich lieb hast und dass das, was wir haben, wichtig sei und besonders. Du sagst, du seist bei mir ganz du selbst und ich sage, ich sei bei dir ganz ich selbst und ich weiß, ich bin mit dir zusammen überhaupt nicht mehr da. Ich weiß nicht, wie das geht.

Ich wollte nur an deiner Seite alte Bücher lesen, weißt du. Ich bin so eine. Mir dir zusammen noch zwei, drei, hundert Trödelbilder kaufen, Enten fütten wie an diesem anderen Abend am See, als die Sonne unterging und ich nie glücklicher war als dann. Die Enten kamen zu uns, wenn wir nicht zu ihnen kamen. Und du an meinen Tisch, wenn ich draußen unter dem gelben Sonnenschirm Briefe an dich schrieb und Gedichte über das lustige Schaukeln dieses verdammten Stegs, auf dem du mich geschlagen hast und gelacht hast und ich habe gelacht und gedacht, dass wir wirklich zusammen gehören.

Ich höre die alte Musik aus deinen Briefen, wie heilig mir diese Briefe waren und die Musik in einer fremden Sprache. ("Das Leben bewegt sich, es kann nicht stehen bleiben. Alles ändert sich, aber lass es sich verändern. Ich habe heute begriffen, dass ich dich liebe. Noch gestern glaubte ich, dass mich nichts bewegen kann.") Ich war noch Kind und ich hätte nie gedacht, dass ich dich je verliere.

Erinnerst du dich, wie ich auf deiner Schulter lag oder im Zelt und wir sprachen über Sterne, weil du Sterne liebst und dass wir dieses Leben schon unendlich oft gelebt haben. Wir waren auch zusammen beim Mond, er ist uns immer wieder aus dem Sucher entwicht und wir waren die ganze Zeit damit beschäftigt, das Teleskop zu richten. Ich kann nicht sagen, dass das romantisch war, aber es war eine von vielen Nächten weit entfernt. Einmal bist du aufs Dach gestiegen, weil da eine orangefarbene Wolke am Himmel stand. Die fanden wir beide schön.

Und jetzt: Ich laufe immer noch eilig mit dir durch die Stadt auf dem Weg zum Busbahnhof, wo du mich einmal an die Hand genommen hast und ich dachte, das sei es, das sei es, bevor du lieber mit dem Fahrrad fahren wolltest und ich hatte ja kein Fahrrad. Manchmal saß ich dann auf deinem Gepäckträger. Erst haben wir gelacht und am Ende geschwiegen und du hast Musik gehört und ich wusste schon lange nicht mehr, wer ich ohne dich war.

Du hast gesagt, wir könnten zusammenziehen und zwei Kaninchen halten. Ich mochte Kaninchen nie besonders, aber ich mochte dich und deshalb Kaninchen. Wir liegen immer noch in deinem Zimmer nebeneinander und sehen zu, wie eines davon im Zimmer sitzt und denkt. Weißt du noch? Sie fressen nur und kacken und schlafen und zwischendurch denken sie nach, ob sie fressen, kacken oder schlafen sollen, das sieht trollig aus. Ich mochte es, wie lieb du zu deinem Kaninchen warst und wie wir dann lachen konnten. Diese seltenen Momente, in denen wir zusammen lachen konnten. Die gab es nur am Anfang, als du das Wort für Nebel noch nicht kanntest. (Ich weiß noch, wir haben Erdbeertorte gegessen, als du versuchst hast, es zu umschreiben.)

Ich lese dein Gedicht an mich immer wieder zum ersten Mal und es tut mir weh, weil es schön ist wie dieser Tag im Wald, als wir über deutsche und finnische Schimpfwörter gekichert haben. Schon damals warst du mir Freund. Es endet mit dem Vers, dass du ohne mich nicht leben kannst und ich will jetzt noch nichts davon wissen, dass du ja ohne mich leben kannst. Immer noch küsst du mich und immer noch schlägst du mich und es ist dir alles alles lustig und gleich.

Vielleicht sitzen wir auch nicht mehr im Bus, verhalten uns kindisch, manchmal viel zu ernst und manchmal weine ich und du hast nichts mehr zu sagen. Vielleicht sind wir nie in der Schwimmhalle gewesen, in der man die Schlüssel ans Bein bindet und ich deine Sprünge bewerten sollte. Möglich, dass ich es gar nicht so sehr geliebt habe, dir zuzusehen, wie du stolz wurdest, wenn ich dich lobte.

Und dass es sie nicht gab, die Gespräche über Zukunft, wenn wir vor der Sauna saßen und dampften. Und keine Umarmungen und keine Wort über Träume und Ängste und wie ich das Mädchen sei, um das du Gott gebeten hast und die Stunden auf dem Flohmarkt, die Frage, welche Matraze die beste für dich sei, welche Radhose, welcher Winkelmesser und ob oder nicht Töpfe mit Teflonbelag.

Vielleicht habe ich es auch nicht gemocht, immer das Beste für dich zu suchen, immer gut genug sein zu wollen für dich. Ich war nie genügend gut. Aber gut genug, deine Bücher wegzuschaffen, wenn ich Kilometer weit von der Bibliothek entfernt war. Und fürs Bett. Ich habe nie verstanden, warum du nicht weinst und warum ich so viel weine.

Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir nie wirklich gewesen sind. Und du warst nicht mein geheimer Brieffreund, mein geduldiger Lehrer und nie ein Teil von mir. Du warst mir nicht wie ein Bruder. und du warst nie der Eine für mich und nie mein lieber Kindheitsfreund, den ich mit dreizehn Jahren traf.




"Jos se muuttuu, niin antaa sen muuttua."
Wenn es sich verändert, lass es sich verändern.


Anmerkung von Anantya:

Katharsis

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Kommentare zu diesem Text


 Momo (30.01.12)
Die Entzauberung der Illusion, gut geschrieben und sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße, Momo
magenta (65)
(30.01.12)
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 kirchheimrunner (08.02.12)
hallo Anantya: diese kurze Geschichte ist gut geschrieben. Es mag ja Betroffenheitspoesie sein... aber wenn schon. Als reifer Mann finde ich die Story nicht gerade zum mit-heulen und mit- schluchzen. Aber als Leser bin ich fasziniert. Die Entzauberung, die Entkleidung einer Beziehung und doch wieder Überkleiden mit etwas anderem. Von der poetischen Sprache her, finde ich diese Kurzgeschichte sehr reif, sehr eigenwillig - markant und doch zart.
So muss Entkleidung und Entzauberung auch sein. Niemals urteilend und niemals brutal. Dass es doch "schonungslos" wirkt, ist der "Schriftstellerin" zu danken.

Gratuliere. L.G. Hans
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