Ausblick / Fragment

Gedicht

von  sandfarben

Silbergras gedeiht nicht
auf dem fensterbrett
du pflückst ein bisschen liebe
aus der vase und sonnenlicht
schaut spaltbreit
durch die offenen gardinen

du zählst die strahlen
die noch bleiben werden
bis mittag sagst du
sind es noch genau drei stunden


Anmerkung von sandfarben:

veröffentlicht in der Zeitschrift Erostepost Nr. 57/2019

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Kommentare zu diesem Text


 Mondgold (22.04.13)
der letzte vers gleicht einem anker. sehr schön! LG M*

 sandfarben meinte dazu am 23.04.13:
Vielen Dank für das Lob.
s.
MarieM (55)
(22.04.13)
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 sandfarben antwortete darauf am 23.04.13:
Danke Marie, DANKE!
gaby.merci (61)
(23.04.13)
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 sandfarben schrieb daraufhin am 23.04.13:
Das ist schön formuliert, danke.
lg. s.

 Abendwind (23.04.13)
**ohja,das ist schön:Sonne und doch ein wenig Schatten...
"Queste belle giornate.." (wie Patrizia Cavalli sagen würde...**lach***) LG A**

 sandfarben äußerte darauf am 23.04.13:
eh.. sí, ogni tanto ci sono delle belle giornate, grazie.
Danke für Besuch und Kommentar.
s.

 Isaban (24.04.13)
Silbergras gedeiht nicht
auf dem fensterbrett

Hier wird das Silbergras groß geschrieben. Absicht? Zufall, weils am Anfang steht? Versehen? Silbergras ist die Pionierpflanze, die Wanderdünen "sesshaft" macht, richtig? Und es gedeiht auf losen Böden, auf Sand, auf allem, was verweht werden könnte. Klar, auf Fensterbänken wird sich selten genug Sand für Pionierleistungen ansammeln, bestenfalls im Blumentopf.

Nur: Kann man jemanden im Blumentopf sesshaft machen? Ich würde mich sträuben. Was bleibt also: Wenn man schon kein Silbergras haben kann, begnügt man sich mit etwas, was man temporär in einer Vase am Leben halten kann. Temporär, denn nichts hält in einer Vase ewig, selbst Plastikblumen setzen Staub an und verwittern - ohne vorher jemals geduftet zu haben, auch wenn die Vase in der Sonne steht.

Das lyrische Ich begnügt sich also mit etwas, von dem es weiß, dass es sehr vergänglich ist, mit etwas, bei dem das Ende vorprogrammiert ist.

du pflückst ein bisschen liebe
aus der vase und sonnenlicht
schaut spaltbreit
durch die offenen gardinen

Dieses Etwas, das da aus der Vase - nicht aus dem Garten, nicht vom Berggipfel, nicht von der Wiese, nicht aus Wald und Feld oder auf einer exotischen Insel etc., nein, aus dem Siechenheim für Schnittblumen - gepflückt wird, dieses Etwas wird vom lyrischen Ich Liebe genannt.

Es gibt keine genaue Definition für Liebe, jeder hat seine eigene. Dieses LI hier gibt sich mit der Variante zufrieden, die man im zur Not im Supermarkt erhält, ein bissl halbtote Blume aus der Vase muss reichen. Man kann ja ein Aspirin ins Wasser geben, täglich die welken Blättchen abzupfen und den Stiel alle paar Tage ein bissl beschneiden, dann hält sich das Blümchen länger. Ist irgendwie wie beim Bonsai. Hübsch und klein und ständig werden die Wurzeln kunstvoll beschnitten - aber so'n richtiger Baum ist doch was anderes, gelle? Der geht auch nicht ganz so leicht ein.

Da fragt man sich: Was will das LyrIch eigentlich? Wen hegt es da so, sich oder das Surrogat-Blümchen, das einfach kein Silbergras werden will? Wem gaukelt es mit offenen Gardinen Freiheit vor, sich oder dem Blümerich, der mit abgeschnittenem Stängel in der Vase verwest? Wer oder was ist in diesem Bild die Schnittblume, das lyrische Ich selbst oder das LyrDu? Wem gilt dieses „Du? Führt das LI Selbstgespräche oder wirft es jemand anderem vor, dass er/sie Liebe aus der Vase, aus der Retorte lebt, zeitlich begrenzt, irgendwann in naher Zukunft verwelkt, aber dafür leicht auffüll-, beziehungsweise austauschbar?

du zählst die strahlen
die noch bleiben werden
bis mittag sagst du
sind es noch genau drei stunden

Und was passiert dann mittags? Hat das Warten dann ein Ende? Wird das zarte Pflänzchen Liebe dann artgerecht in der Wildnis ausgesetzt? Gibt es dann gar keine Sonnenstrahlen mehr, sind die dann für immer ausgeknipst?


Es ging in diesem Text von Anfang an um Stückwerk und um Zeit, um zeitliche Begrenzung, um Temporäres.

Ausblick / Fragment

Nach meiner Interpretation fühlt sich das LI wie eine Blume in der Vase, Bruchstück, Stückwerk, abgeschnitten, zerschnitten dem Verwelken anheim gegeben, mit Ausblick auf ein Fenster, das offen ist, so dass man sich hinaussehnen kann, dieses Sehnen sich aber praktisch nur erfüllt, wenn jemand die Vase – und mit ihm die Blume - umkippt oder gleich ganz aus dem Fenster wirft, denn Schnittblumen haben weder Wurzeln noch Füße, sind weder heimisch, noch können sie flüchten, sind dort, wo jemand sie hingestellt hat, um sich eine Zeit lang an ihnen zu erfreuen oder sie ganz einfach zu vergessen.

Ob Vasenblumen davon träumen, aus Fenstern zu springen, wenn das Ende naht, wenn sonst nichts mehr bleibt? Das Fenster steht einen Spalt breit offen, bietet die Ahnung von dem, was draußen vorgeht, was draußen sein könnte: Sonne, Wärme, Freiheit. Schitte aber auch, dass Schnittblumen so schlechte Ausbrecher sind, hm?

Warten. Warten war schon immer eine ätzende Angelegenheit, ganz besonders, wenn man sehr lange warten muss – und wenn man nicht sicher ist, ob sich das Warten überhaupt lohnt – oder worauf man überhaupt wartet. Auf einen Anfang? Auf ein Ende? Erst mal auf den Mittag. Und bis dahin sind es noch genau drei Stunden.


Ein spannender Text, einer, der sich nicht sofort erschließt, einer, mit dem man sich auseinandersetzen muss, wenn man zwischen die Zeilen, wenn man hinter die Oberfläche blicken will. Ich habe gewiss nicht alle Fragen, wer weiß, vielleicht nicht mal eine geklärt, aber ich habe mich gern mit ihm beschäftigt.

Liebe Grüße

Sabine
(Kommentar korrigiert am 24.04.2013)

 sandfarben ergänzte dazu am 24.04.13:
Hallo Sabine,
zur Großschreibung, deshalb weil am Beginn des Gedichtes, es könnte auch klein geschrieben werden.

Silbergras ist eine Pflanze, die bei uns nicht gedeiht und schon gar nicht in einer Vase am Fensterbrett. Stellen wir uns nicht manchmal Situationen, Dinge, Menschen vor, die wir haben möchten und gar nicht in unser Leben passen. Trotzdem halten wir manchmal an solchen Gegenständen oder Beziehungen fest, stellen sie ans „Fensterbrett“, damit sie genügend Licht und Sonne haben um zu gedeihen. Dann pflücken wir täglich ETWAS davon (Erinnerungen, Gedanken, Liebe vielleicht), wohl wissend, dass die Pflanze eingehen wird.
Und warten, dass sich alles zum Guten wendet. Warten ist eines der unerträglichsten Situationen, vor allem dann, wenn man nicht weiß, ob es sich lohnt zu warten. Manchmal sagt man, jetzt warte ich noch 5 Minuten, einen Tag, eine Woche.. Das Warten wollen wir eingegrenzt haben. In diesem Fall einfach bis Mittag. Was kommt danach? Keine Ahnung, das weiß das LI nicht, vielleicht schmeißt es diese Pflanze endlich auf den Kompost, weil es sich sicher ist, dass es sich die intensive Pflege gar nicht lohnt.
Danke, dass du dich so intensiv mit diesem Gedicht beschäftigt hast. Ich hoffe, mir ist es gelungen, wenigstens einige deiner Fragen zu beantworten.
lg. Christa
baerin (53) meinte dazu am 28.04.13:
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 W-M (28.04.13)
sehr schön

 sandfarben meinte dazu am 27.03.15:
Ups, erst jetzt gesehen, danke!
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