Der Zug fuhr immer kurz vor sechs

Text

von  Cathleen

Der Zug fuhr immer kurz vor sechs

Der Zug fuhr immer kurz vor sechs.
Ich durfte mit. Einmal im Jahr.
Das Reiseziel hieß Weißenfels
und die Adresse: Großmama!
Mein Herz, es dröhnte wie der Zug.
Der Schaffner knipste dann und wann.
Stationen wechselten im Flug
und gegen Mittag kam ich an.

Meist liefen wir am selben Tag
noch bis zur Gartenkolonie,
die weit entfernt am Stadtrand lag.
Das Ritual vergess’ ich nie:
Hier lud mich ein Schlaraffenland
zu ungehemmtem Naschen ein.
So viele Erdbeern, wie ich fand,
bekam ich gar nicht in mich rein.

Und jeden Morgen gab es Toast.
Die Milch stets aufgewärmt – nie kalt!
Rharbarbermost für meinen Durst.
Bis mein Bauch gluckernd sagte: Halt!
Auf halber Treppe das WC.
Kein Bad, nur ein Kaltwasserhahn.
Das tat beim Zähneputzen weh;
zum Teufel mit dem Loch im Zahn!

Ins Freibad ging’s mit dem Cousin.
Er sprang vom allerhöchsten Turm
kopfüber in das Schwimmbassin
und riss mich hin zum Beifallsturm.
Am Abend durfte ich sogar
ein bisschen länger Fernsehn sehn,
als es zu Hause üblich war.
Es gab Kakao vorm Schlafengehn.

Wir weckten tonnenweise ein.
Allein der Duft – ein Hochgenuss!
Vom Keller bis zum fünften Stock
roch’s intensiv nach Apfelmus.
Auch Kirschen hab ich gern entkernt,
mit einer Lockenklemme bloß!
Nur Stricken hab ich nie gelernt,
bei so was war mit mir nichts los.

Der Zug nach Haus war mir verhasst.
Es war, als ob ein Gitter fällt.
Am liebsten hätt ich ihn verpasst.
Adieu, geliebtes Weißenfels!
Noch heute hält mein Herz dran fest:
Ich ließ ein Paradies zurück
in diesem öden grauen Nest.
Mein eignes kleines Stück vom Glück!

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