Einleitung zu meinen 18 Deutungen von Gedichten des Paul Celan

Essay zum Thema Mystik

von  HerzDenker

 Ich war sehr erfreut, wie mehrere Kollegen auf meine Deutungen von ausgesuchten Celan-Gedichten reagierten. Da es immer wieder dabei um seine Weltsicht ging, erscheint mir die Einleitung, die ich damals anlässlich der Deutung von insgesamt achtzehn Texten schrieb, recht wichtig. Hier ist sie:

Paul Celan zählt nach allgemeiner Überzeugung zu den wichtigsten Lyrikern deutscher Zunge im 20. Jahrhundert. Die literarische Fachwelt  seiner Zeit hätte sich wohl nicht gewundert, wenn ihm der Nobelpreis für Literatur zugedacht worden wäre. Dass dies nicht geschah, war möglicherweise auch seiner sehr eigenwilligen Sprache zuzuschreiben, die dem Normalleser oft schwer zugänglich ist und die oft einige Satzsplitter als Wortgefüge aneinanderreiht oder Einzelworte bar jeder Grammatik in eine Zeile setzt. Zudem werden wir aufgefordert, über eine Reihe „erschwiegener Worte“ mehr als anderswo „zwischen den Zeilen zu lesen“. Es entsteht eine semantische Mehrdeutigkeit, bei der Interpretationsversuche oft viel über den Deutenden aussagen, der Lücken zu schließen hat, die sowohl seine Phantasie als auch das eigene Menschenbild des Lesers verdeutlichen. Es gilt zudem eine Feststellung, die er selbst dazu formuliert hat: 
Worte sind keine Gefäße, sondern tiefe Brunnen, deren Wasser wir niemals voll erfassen können.

Wer sich nun aber mit weltanschaulich geprägten Äußerungen des Dichters über seine Arbeit beschäftigt, bemerkt, dass er vom Chassidismus und seiner Mystik stark beeinflusst war. Ja, er wertet sie als Zentrum fast jeden lyrischen Schaffens, wenn er in derselben Quelle feststellt,  Lyrik als solche sei Mystik.  Dabei scheint er die etablierten Religionen, seien sie jüdisch, christlich oder muslimisch orientiert, nicht als die passenden Sachwalter dieses spirituellen Ansatzes zu erkennen, womit er seine Modernität zum Ausdruck bringt und die Religiösität als ein individuell zu beackerndes Feld ansieht. Dabei begibt er sich inhaltlich wohl in die Nähe eines Karl Rahner, der zu ähnlicher Zeit den berühmten Satz aussprach: Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein. : In seinen Worten ist die Schlüsselgewalt eingedunkelt, die Weltsekunde erscheint für dieses Denken noch nicht gekommen. Aus der lichtvollen Quelle nun, die die Sphäre von Erfahrungen Gottes offenlegen kann, schöpfte er offenbar seinen Sprachreichtum und die Grundlinien seiner Gedankenstruktur. Diese Erkenntnis kann dazu führen, dass wir als Leser die Angst vor den zum Teil dunklen Seiten seiner Poesie verlieren.  Diese enthält zwar manchmal auch den Tenor eines Klagegesangs, eine Komponente, die wir aufgrund seiner Biografie mehr als verstehen sollten: Seine Eltern kamen durch Nazi-Gewalt um, er wurde nur durch mehrfache, sehr günstige Umstände vor demselben Schicksal bewahrt. Die Depressionen, die sich später aufgrund solcher psychischen Torturen immer wieder einstellten, waren sicher auch dem Gefühl geschuldet, diese glückliche Fügung evtl. „nicht verdient“ zuhaben. Sie brachten ihm in jedem Fall immer wieder  psychische und allgemein gesundheitliche Probleme, die häufiger Aufenthalte in Kliniken  notwendig machten.

Die Rezeption der Lyrik war und ist stets vielgestaltig und löste zum Teil Polarisierungen aus; die Gruppe 47 konnte weder mit der gelegentlichen Schwere seines Tenors als auch mit dessen eingelagerter Geistlichkeit etwas anfangen und sprach in einem häufig zitierten Zitat von „Synagogen Singsang“. Eine weitere Gruppe von Lesern und Interpreten zeigte vor allem großen Respekt vor den nicht ganz erfolglosen Versuchen Celans, seinen Schmerz aufgrund des Schicksals seines Volkes mit dem Dichten zu komprimierend zu Ver-Dichten und dadurch ein Stück zu verarbeiten. Dass seine Sprache etwas Intensives mit dem Leser mache, wurde dabei ebenso gewürdigt. Erst eine dritte Gruppe, die sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr zu Wort meldete, wies auf den spirituell-mystischen Kern seiner Botschaft hin. Als von den Sprachgittern seiner lyrischen Kunst tief bewegter möchte ich diese Spur weiter vertiefen und an lebendigen Sprachbeispielen zu veranschaulichen suchen. Ich betone diesen Aspekt nicht mit dem Ziel, zu behaupten, dass er der prägendste Blickwinkel sei, mit dem sein Werk betrachtet werden sollte. Aber er scheint mir mit dem weltanschaulichen Hintergrund, der bei ihm erkennbar war, ein legitimer und wichtiger Strang der Celan-Deutung. Er kann Menschen zum Teil beeinflussen, das behutsam und still vorzubereiten, was der Dichter in seinen Worten so beschreibt: Wir alle sollten zu Atem kommen und drüber hinaus. Dies kann Leben verändern, wie es auch ein Titel seiner Gedichtreihen aussagt: Eine Atemwende kann eingeleitet werden. Ebenso lassen sich andere ureigene Worte vom Dichter zum Beschreiben der Höhendimension eines wichtigen Teils seiner Lyrik verwenden:  Wir alle sollten geistlich zu Atem kommen und drüber hinaus.

Einen letzten Punkt möchte ich noch erwähnen, der mich zu dieser Arbeit bewegt hat: In einer Zeit eines erneut wachsenden Antisemitismus erscheint es mir besonders sinnvoll, großartige Beiträge aus der jüdischen Kultur gerade in deutscher Sprache wieder verstärkt ins Bewusstsein zu rücken.

Zur Textsorte möchte ich noch dies sagen: Ich würde es als Essay bezeichnen, das in wichtigen Grundlinien wissenschaftlichen Anforderungen weitgehend gerecht geworden sein dürfte. Es verstehst sich vorwiegend als philosophisch geprägte Arbeit, die den Bereich Germanistik erst in zweiter Linie streift. Durch das Wesen der Lyrik, deren Lektüre und Deutung stets sehr persönlich gefärbt ist, habe ich mich in dieser Arbeit immer wieder spürbar dazu bekannt, dass ich wesentliche Impulse meiner eigenen idealistisch-neuplatonischen Weltsicht in den ausgewählten Texten bevorzugt wieder gefunden habe. Ich gehe allerdings davon aus, dass nur etwa ein Viertel seiner Gedichte in dieser von mir entdeckten Klarheit diesen philosophischen Hintergrund aufweisen.

 



Notizen zur DVD „Gottes zerstreute Funken“, Mystik bei Paul Celan, von Rüdiger Sünner. htpps://absolutmedien.de

  H. Vorgrimler, „Gotteserfahrung im Alltag. Der Beitrag von K.Rahner zu Spiritualität und Mystik, Zürich 1984, S. 62-78

 

  Notizen zur DVD „Gottes zerstreute Funken“, Mystik bei Paul Celan, von Rüdiger Sünner. Htpps://absolutmedien.de

 

s. Anm. 2

 

 



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