Kosmische Geschwindigkeiten

Text

von  MagunSimurgh

Dieser Text ist Teil der Serie  Echte Märchen

In der Astrophysik kennt man drei kosmische Geschwindigkeiten. Sie beschreiben die (ungefähre) Geschwindigkeit, die ein Objekt benötigt, um antriebslos in einem stabilen Orbit um die Erde zu kreisen (erste kosmische Geschwindigkeit), das Schwerefeld der Erde (zweite kosmische Geschwindigkeit) beziehungsweise gar des Sonnensystems zu verlassen (dritte kosmische Geschwindigkeit). Für all das muss man wahnsinnig schnell sein und es erfordert eine riesige Kraftanstrengung, selbst ein kleines Objekt wie einen Menschen so stark zu beschleunigen.


Dieses Mal habe ich die Fluchtgeschwindigkeit erreicht. Vor zweieinhalb Jahren war ich schon einmal da oben und hatte gesehen, wie dünn die Atmosphäre ist, in der wir leben, wie zerbrechlich unser System aus Du und Ich. Bei der Landung muss dann irgendwas schiefgegangen sein. Vielleicht habe ich beim Sinkflug einen riesigen Wirbelsturm über uns toben lassen oder mit meinem Einschlag einen Vulkan ausbrechen lassen, als ich zurückgestürzt bin. Jedenfalls kann ich mir nur so erklären, wieso sich dieser nukleare Winter einstellte. Etwas Schlimmes muss damals passiert sein. Es wurde furchtbar kalt und die Ökosysteme brachen zusammen. Oder war die Katastrophe da schon nicht mehr aufzuhalten, waren unsere Ökosysteme schon kaputt? Waren wir schon hinter dem Kipppunkt und ich hätte besser funken sollen „Es rette sich, wer kann.“ und dann verschwinden? War es doch nicht nur meine Schuld?


Es war nicht so, dass unser Zuhause schlagartig unbewohnbar wurde. Der Verfall begann schleichend. Die kritische Infrastruktur war bis zum Schluss intakt und wir hätten noch eine ganz Weile überleben können. Besucher von anderen Planeten hätten wohl gedacht „oh, was für eine schöne Welt, so sauber, so heil, niemand hungert und dekoriert ist sie auch hübsch“. Man hätte sich schon durch den Dschungel schlagen müssen, um die Schmetterlinge zu zählen, und regelmäßig Fieber messen, um die sich anbahnende Unterkühlung zu bemerken. Das Tückische an bewohnbaren Planeten ist, dass sie einen gewissen Treibhauseffekt brauchen. Zu viel und sie werden unbewohnbare Felswüsten, zu wenig und sie werden unbewohnbare Eiswüsten. Als das Gleichgewicht in unserer Atmosphäre kippte, zogen dunkle Wolken auf. Es drang nur noch ein Fünftel des Sonnenlichts zur Oberfläche vor und auch an sonnigen Tagen wurde es zu kalt, um ohne Handschuhe Händchen zu halten. Die Finger wurden so kalt, dass wir uns nicht mehr spürten. Wir hätten es wie die Pinguine machen sollen und uns eng zusammenstellen, um uns warmhalten. Was hielt uns eigentlich davon ab?


Aber das war noch nicht alles. Die Rotation unseres Planeten ging immer weiter zurück, bis sie zum Stillstand kam und es eine kalte Tagseite gab und eine eisige Nachtseite. Du bist auf die Nachtseite gezogen, ich auf die Tagseite. Wir trafen uns immer seltener zum Essen. Warum sind wir nicht wenigstens zusammen an die Tag-Nacht-Grenze gezogen? Ich habe dich vermisst, und ein Teil von mir hat es gehasst, dass du dich mit Besuchern von anderen Planeten so viel besser verstanden hast als mit mir, und ein anderer Teil von mir hat es gehasst, dass ich so gefühlt habe und keinen Weg fand, der wieder näher zu dir führte. Dabei habe ich es wirklich versucht! Ich wollte so gerne einen Tunnel bohren zu dir oder den heißen Kern des Planeten anzapfen, damit wir es wieder wärmer haben. Letztes Weihnachten habe ich mir sogar ein Nachtsichtgerät gekauft, um mit dir in der Eiswüste Schneemänner zu bauen. Ich wollte in deine Arme kriechen, wenn mir kalt war, aber unter einer Decke hielten wir es nicht mehr lange aus. 


Ich glaube, du hast mir schon lange misstraut. Als die Atmosphäre immer eisiger wurde, berief ich eine Klimakonferenz ein, doch wir kamen nicht über Absichtserklärungen hinaus. Es hat lange gebraucht, bis du mir verraten hast, woher die Kälte kam, aber endlich rücktest du mit der Sprache raus: „Dass du damals ohne mich ins All geflohen bist, hat mich sehr verletzt.“ Ich habe dir erklärt, dass ich mir damals nicht anders zu helfen wusste. Ich schwor dir, dass ich nicht verletzen wollte. Ich hatte diese Mission nicht geplant. Ich hatte das erste große Schmetterlingssterben bemerkt und mich gefragt, ob wir noch die gleichen Pläne hatten für den Planeten. Ich war im Kontrollraum und wollte eigentlich nur eine Leuchtrakete abfeuern oder SOS funken, aber dann habe ich diesen Hebel gefunden und einfach runtergedrückt. Da hat es mich rausgeschossen. Dabei habe ich gesehen, wie kritisch der Zustand des Planeten eigentlich schon war, ich habe Angst bekommen und gefunkt: „Ich glaube, ich komme nicht zurück, wir sollten den Planeten verlassen.“ Ich hatte gedacht, dass wir das nicht schaffen, dass die Löcher in den Regenwäldern schon zu groß waren. Es war ein Fehler, ich hätte dich zumindest bitten sollen, den Zustand des Planeten zusammen zu untersuchen. Also kehrte ich zurück - im Sturzflug. Der Staub legte sich, doch der Krater des Einschlags blieb. Als die Konferenz zu Ende ging, unterschrieben wir beide, dass wir hier eine Baumschule gründen wollten, doch es wuchs nur etwas Gras darüber. Wir haben uns nicht genug darum gekümmert. Und so fragtest du mich immer wieder: „Woher weiß ich, dass das nicht wieder passiert, dass ich dir vertraue und dann fliegst du einfach los und suchst dir einen intakteren Planeten?“, hast du gesagt. „Das weißt du nicht.“, hab ich gesagt, „Das ist das Risiko, das es immer gibt, wenn man auf einem Planeten wohnt. Woher weiß ich, dass du nicht morgen los fliegst? Es bleibt nur, zu vertrauen.“. „Ich kann das nicht ungeschehen machen.“, habe ich gesagt und gedacht, „… und die fundamentalen Differenzen nicht ungesehen…“, und gesagt: „Es tut mir Leid, dass ich keine bessere Lösung gefunden habe, keine gemeinsame.“ Ich glaube, dass du mir das verziehen hättest, wäre eine wichtige Voraussetzung dafür gewesen, zu einem wirksamen Klimavertrag zu kommen. Das habe ich dir auch gesagt und bat dich um Verzeihung. Verzeihen sei so ein großes Wort, das Ganze würde dadurch ja nicht vergessen, meintest du. Aber darum geht es ja nicht, der verwüstete Planet wird nie wieder so sein, wie vor der Katastrophe, das müssen wir akzeptieren. Wir hätten aber versuchen können, das zu retten, was übrig ist, und daraus Neues wachsen zu lassen.  


Dann brach auch noch das Magnetfeld zusammen und die Weltraumstrahlung störte den Funkkontakt immer stärker, bis alles Wesentliche ungesagt blieb. „Ich kann heute im Kontrollzentrum putzen… krrr… krrrrr….“, hab ich noch gesagt und dann war die Leitung tot. Plötzlich wurde mir diese große 6-Jahres-Mission zur Rettung des Planeten angeboten und ich wollte dich mitnehmen, aber du hast nur mit den Achseln gezuckt und aus dem Funk kam nur Rauschen. Ich wollte mit dir neue Bäume pflanzen, darin Baumhäuser bauen, von dort aus Schmetterlinge zählen – und dann den nuklearen Winter beenden. Du hast gesagt, du seist nicht sicher, ob der Planet noch zu retten wäre, und ob du noch genug für mich übrig hast, mit mir zu gehen. Du hast gesagt, dass sich das Leben auf diesem Planeten wie eine Sackgasse anfühlt. Ich habe dich gefragt, was du ändern willst, aber du warst stumm – oder jedenfalls konnte ich keine Antwort hören. In dieser Stille wurde mir furchtbar kalt. Mir schien, dass jede Frage, jeder Gedanke, jede Suche nach Erklärungen, nach Klärung, dich nur weiter fort trieb von mir. Ich solle aufhören dich zu piksen, aufhören mit dem Verhör – aber weißt du, dass mich dein Schweigen auch oft verletzt hat? Vielleicht war das am Ende die große Katastrophe, dass wir nie gelernt haben, dass jede Eiszeit langfristige Konsequenzen hat, dass alles Ungesagte uns irgendwann einholen würde. Die Gletscher mögen ihre Opfer langsam verschütten unter ihren Moränen, aber sie zeichnen trotzdem eine Narbe in die Landschaft. Ein schlechtes Wetter macht noch keinen Klimawandel, viel schlechtes Wetter ist ein Klimawandel. Hätten wir das doch viel früher eingesehen, vielleicht gäbe es uns dann noch und der Planet würde sich noch drehen?


Unser Planet war am Ende und anders als in den Filmen, explodierte er nicht mit einem lauten Knall, es wurde einfach immer stiller. Alles Leben wurde langsamer und leiser, als alles Wasser gefror und sich der Stickstoff in der Luft verflüssigte. Jeder Schritt im Stickstoffnebel verwandelte den Untergrund in toten Weltraumstaub, den unser Planet als eisige Spur hinter sich herzog. Ich war am Ende, als mir alle Tränen sofort gefroren. Ich musste da weg. Als ich dir das sagte, hattest du noch viele Tränen für uns übrig, ich wünschte so sehr, dass es heißt, dass ich dir noch etwas bedeutet habe, und ich wünschte so sehr, dass es gereicht hätte, den Planeten zu retten. Ich bestieg die Rakete an einem traurigen Morgen, ich füllte den Tank bis zum Rand mit Treibstoff. Bevor es losging, habe ich nachgemessen, um sicherzugehen, dass dir genug Treibstoff bleiben würde, um auch von hier zu entkommen. Ich hinterließ eine Notiz in deinem Spaceshuttle, wünschte dir viel Glück und eine gute Reise, wohin auch immer, aber weg von hier. „Bitte bleib nicht hier“, schrieb ich, „such dir einen bewohnbaren Planeten, auf dem es dir gut geht, vielleicht mit netten Menschen.“ In der Bewegung war ich etwas aufgetaut und habe hemmungslos geweint, aber etwas in mir hatte die Fluchtgeschwindigkeit schon erreicht, anders kann ich mir nicht erklären, dass ich es geschafft habe, den Zündschlüssel umzudrehen und aufs Gas zu drücken. 


In der Astrophysik kennt man drei kosmische Geschwindigkeiten. Sie beschreiben die Geschwindigkeit, die man braucht, um in den Orbit zu kommen, aus dem Schwerefeld der Erde beziehungsweise aus dem Schwerefeld der Sonne zu entkommen. Ich habe genau auf den Tacho geschaut und ich werde die Zahlen nicht vergessen: 7.91 km/s im Orbit, ein letzter Blick zurück, der Blick von Traurigkeit verschwommen, 11.19 km/s und langsam wurde der Planet immer kleiner. Ich drückte weiter aufs Gas, 16.67 km/s, Fluchtgeschwindigkeit aus dem Sonnensystem. Etwas in mir entspannte sich, hier beginnt das Neue, der Weltraum, unendliche Weiten. Ich werde noch etwas Zeit brauchen, um aus der Heliosphäre auszutreten und um die alte Heimat zu trauern. Hinter der Heliopause werde ich die Sensoren neu kalibrieren und dann werde ich nach einem neuen Planeten Ausschau halten. Ich habe ein paar Samen retten können von unserem Planeten, ein Teil von uns wird mir bleiben und ich werde versuchen, daraus die richtige Lektion zu lernen und einen anderen Planeten damit zu bereichern. Im Rückspiegel sieht unser Planet nun aus wie ein Komet, der einem den Weg weist. Ich bedauere es sehr, dass er nun einen Ort markiert, an den es kein Zurück mehr gibt. Wir haben so lange dort gelebt und es gab so gute Zeiten. Es brauchte diese wirklich große Not, um mich von dort fort zu treiben und es hat dennoch eine riesige Kraftanstrengung erfordert, um selbst ein so kleines Objekt wie mich so stark zu beschleunigen.



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (20.02.22, 11:48)
Ein lesenswertes Märchen mit Realitätsbezug.

 MagunSimurgh meinte dazu am 20.02.22 um 13:38:
Danke. :)

 Detektivin (20.02.22, 12:35)
Du kannst definitiv auch längere Texte wie diese - gefällt mir seht gut. (:

Ich fand beim Lesen gerade sehr interessant, dass ich einerseits sehr nah dran und andererseits sehr weit weg war. Das Gefühl der Entfremdung, was ich da so gefühlt habe, ist irgendwie nah aber der Weltraumbezug ja auch sehr fern. Sehr interessantes Spannungsfeld (elektrostatisches Feld der Erde höhö) für mich.

 MagunSimurgh antwortete darauf am 20.02.22 um 13:42:
Dankeschön!

Für mich war von Beginn an, als ich die Idee hatte, dieser ständige Wechsel zwischen dem Sachlichen und der metaphorischen Ebene so spannend daran, das so zu schreiben. 

Danke für deine Auseinandersetzung mit diesem längeren Text. (:

 monalisa (22.02.22, 10:55)
Hallo Magun,
die titelgebenden kosmischen Geschwindigkeiten halten den Text wie eine  Klammer zusammen, obwohl gerade sie für Flucht stehen, für den ungeheuren Energieaufwand, der nötig ist, um, vereinfacht gesagt, dem Schwerefeld eines Planeten zu entkommen. Also ein naturwissenschaftlicher Rahmen um eine höchst emotionale Geschichte, in deren Mittelpunkt die Auflösung einer Paarbeziehung steht, aber in enger Verknüpfung mit brandaktuellen ökologischen (Klimawandel) Aspekten/Parallelen und utopisch anmutenden Elementen, die ein modernes "echtes Märchen" kreieren und ganz unterschiedliche Zugangsebenen erlauben. Die Metaphorik gestattet intime Einblicke, ohne wirklich offenzulegen und lässt mich im Wechsel von nüchtern beschreibenden Bildern und emotinalen Ausbrüchen intensiv mitfühlen mit dem gebeutelten LI. Bei all seiner Verzweiflung wirkt LI aber doch auch gefasst, wird nicht die "Schuldfrage" aufgerollt, sondern nach Antworten und Chancen gesucht. Schließlich endet es in der Einsicht, dass die Kräfte, die auseinander treiben zu groß sind, um irgendwie zusammenzubleiben, sind die Bedingungen auf dem gemeinsamen Planeten so lebensfeindlich geworden, dass man nur noch die Flucht nach vorn antreten kann.

Obwohl man ja den Ausgang schon ahnt, bleibt es durch die Verflechtung der verschiedenen Ebenen spannend bis zum Schluss :) .


Liebe Grüße
mona

 MagunSimurgh schrieb daraufhin am 22.02.22 um 20:24:
Hallo Mona,

vielen Dank für deine ausführliche Auseinandersetzung mal wieder.

Der Rahmen war tatsächlich das erste an dem Text, was mir "einfiel", der Rest ergab sich daraus. Es freut mich sehr, dass das Wechselspiel zwischen den Ebenen so aufgeht, wie du es beschreibst. 

Ansonsten weiß ich gar nicht, was ich dazu mehr sagen soll, du hast ja wirklich vortrefflich beschrieben, wie der Text "funktioniert" und ich bin sehr glücklich, wenn das so ankommt bei dir als Leserin. 

Liebe Grüße
Magun
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