Die Tante

Dokumentation

von  Fridolin

Mein Elternhaus und meine Familie besaßen einen ganz besonderen Reichtum: „die Tante“. Sie war die älteste Schwester unsrer Mutter und war nicht verheiratet.
Was der Grund für letzteren Umstand war, konnten wir Kinder nicht herausfinden, denn in unseren Augen war sie eine „gute Partie“ – gut ausgebildet, Haushalt, Nähen, es blieb geheimnisvoll. Die vergrößerte Schilddrüse war ja erst in späteren Jahren entstanden. Früher konnte man ihr Aussehen als angenehm apostrophieren. Mittelgroß, schlank, rotblondes Haar! Sie war klug und besaß zeitweilig treffsicheren Humor. Mit Geld und Gut bestens ausgestattet bis nach dem ersten Weltkrieg die Inflation ihr Barvermögen auffraß.
Aber zu dieser Zeit war die Tante bereits für uns 8 Kinder zur 2. Mutter geworden und also Familienmitglied. Sie besaß zwar eine eigene Wohnung im „Bäule“ über den Wirtschaftsgebäuden (Weinkammer, Streuschuppen, Keller) über den Hof gelegen, ein sogenannter ererbter Sitz (2 Zimmer, Küche, Wirtschaftsraum), aber davon machte sie selten Gebrauch. Doch war sie ihre Zuflucht. War sie aus irgendeinem Grund gekränkt, beleidigt oder sonstwie nicht mit unserer kleinen Welt im reinen, dann verschwand sie im „Bäule“ und drehte auffallend laut den Schlüssel in der Haustür.
Das Schmollen dauerte jedoch nicht lange. Mit begütigendem oder abbittendem Zureden gelang es Mutter oder uns Kindern immer, sie zur Rückkehr ins Haus zu bewegen. Wie sonst auch hätte das Familienleben in der Waage bleiben können. War doch die Tante morgens die erste an der Arbeit und tätig bis abends zum Bettgehen. Und nicht nur in Haus und Hof, sondern als unserm „Außenminister“ war in ihrer Obhut und Sorge die Landwirtschaft, die in diesen Jahren noch zu jedem einigermaßen gut situierten Hausstand im Odenwald gehörte. 2 oder 3 Kühe, ev. Kälber, 2-3 Schweine, ca. 30-40 Hühner waren ihrer Obhut gegeben. Natürlich wurde sie dabei von der Familie unterstützt, vom Vater angefangen bis zu den Jüngsten. Fürs Heumachen, umgraben Säen, Kartoffelziehen, Mähen und dergleichen aufwendige Arbeiten allerdings gab es Taglöhner. In Tante’s Regie wurde das bewältigt. Sie war befriedigt und von stolzem Selbstbewusstsein, wenn bei Winteranbruch jede Ernte eingebracht war und der Apfelduft von meist mehr als 100 Zentnern Äpfel durch die Kammern zog. Dafür machte sie in reichen Jahren sogar Platz in ihrem „Bäule“.

Einmal im Monat, und das oblag einige Jahre mir, musste auf dem Rathaus die Kleinrentnerunterstützung abgeholt werden. Das war eine Art Aufwertung für das durch die Inflation verlorengegangene Vermögen. DM 7.- für einen Monat!! Abgesehen davon, dass dies nur eine klägliche Aufwertung war, so sparte sie das meiste davon und steckte uns Kindern bei Engpässen etwas zu. Z.B. wenn Weihnachten unser Erspartes nicht ausreichte für den Erwerb der Geschenke für die Eltern usw.

Ja, man sollte ihr ein Denkmal setzen, unserer Tante. Aber ihr Kommentar dazu – mir ist’s als hörte ich sie sagen: „Seid ihr jetzt übergeschnappt!



Anmerkung von Fridolin:

nachgelassener Text meiner Mutter

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (15.03.22, 23:35)
Nette Frau.

"ev. Kälber"?
Da ich unterstelle, daß die Kälber nicht evangelisch waren, nehme ich an, daß die Kühe manchmal (= eventuell) Kälber hatten. Stimmt das so?

 Fridolin meinte dazu am 16.03.22 um 03:07:
Die berühmtere der beiden Kirchen in Amorbach ist zwar die evangelische, aber die Mehrheit ist eindeutig katholisch, daher schließe ich mich Deiner Interpretation an.
Merci für Dein aufmerksames Lesen.
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