Von fernen, nahen Feldern

Text

von  Epiklord


Vor langer Zeit, da lebten einmal zwei Brüder, Billi und Lui. Sie schienen
unzertrennlich. Bis eines Tages in ihrem Heimatstaat exotische Lampions
importiert wurden, weil sie mit so wundervollen Ikonen verziert waren. Bald
leuchteten sie in allen Häusern, Straßen und Gassen.


Und man machte eine erstaunliche Entdeckung. Auf jeder Stirnglatze der
mausgrauen Genossen und Genossinnen des hiesigen Landes, mehr zu ihren
Schädeldächern hin, zeigte sich, unter dem Licht der Laternen betrachtet, jeweils
ein wunderbar gezeichneter Kreis. Fortan nannte man ihr Land das derer mit den
Kreisen. Nur auf Luis Plattkopf schimmerte ein deutlicher Winkel. Die Leute der
Umgebung zeigten mit den Fingern auf ihn, sagten, er hätte einen Dachschaden
und bezeichneten es als Winkel-Krankheit. Bruder Billi schämte sich für Lui:
„Eine Schande ist das!“ schalt er. Dies betrübte Lui so sehr, dass er tagelang
weinte; schließlich verließ er die mit den Kreisen.


Billi machte sich indessen große Vorwürfe und begab sich auf die Suche nach
ihm. Er wendete sich an ein hellseherisches Medium, einem alten Mütterchen, das
ihm den Weg zu Lui wies, in ein weit entferntes Land.


Billi fand seinen Bruder, entschuldigte sich bei ihm und bedauerte, ihn wie einen
Aussätzigen behandelt zu haben. Er gelobte, es nie wieder zu tun. Billi hing an
Lui, wollte ihn gleich mit zurück ins Heimatland nehmen. Aber Lui fühlte sich in
dem jetzigen Territorium sehr wohl. So musste Billi eben dort bleiben.


Auch hier hatte man jene Lampions eingeführt und staunte, dass bei allen ein
Winkel auf ihren Glatzköpfen erkennbar wurde, wie bei Lui; auf Billis Schädel
schimmerte aber ein Kreis. Rundherum im Land derer mit den Winkeln sagten sie,
dass Billi einen Dachschaden hätte und es die Kreis-Krankheit wäre. Lui schalt
Billi. Dies betrübte Billi so sehr, dass er tagelang weinte; dann ging er fort.


Bald bezweifelten aber einige Fantasiereisende, die zwischen dem Staat derer mit
den Winkeln und dem derer mit den Kreisen hin und her zogen, dass es sich um
Dachschäden handelte. Denn befanden sie sich im jeweils fremden Gefilde, galten
sie als krank, im Heimatfeld aber als gesund.


Billi und Lui besuchten sich nun wieder gegenseitig. Am liebsten wären sie
zusammengezogen. Aber sie fürchteten den noch immer währenden
Gruppenzwang und die Ausgrenzung.


Die mit den Winkeln und auch die mit den Kreisen hatten sich aber unabhängig
voneinander beträchtliche Kulturen geschaffen mit vielen Buchstaben, mit
LSÜGIFUNHBZEKRAJÖTCDPWM.


Nach ihren gegenseitigen Besuchen begleiteten Billi und Lui sich immer eine
halbe Strecke, machten Halt an der Trinkhalle des alten Mediums, jenem
Mütterchen, welches damals Billi den Weg zu Lui gewiesen hatte.

Das Medium beobachtete die beiden schon längere Zeit. Es konnte nicht mehr mit
ansehen, dass sie sich innerlich so sehr quälten. Nun war ja das alte Mütterchen
hellsichtig, setzte sich auf seinen Ruhesessel in die Gästelounge, in der sich Billi
und Lui befanden, und sprach: „Das Misstrauen gegen Andersartige und gegen
Fremde sitzt zu tief, als dass man es einfach aufheben könnte. Aber wenn man
sich miteinander austauschte, könnte im Nu ein zukunftsweisender Satz
entstehen.“


Etwas rätselhaft, fanden Billi und Lui. Gleichzeitig erklang, mehr intuitiv, ein
hoffnungsfroher Satz in ihnen, ein Satz mit einem Motto, nach dem sich immer
mehr Leute beider Länder gesehnt, aber auch davor gefürchtet hatten. Er blieb
Billi und Lui jedes Mal im Halse stecken. Es gelang ihnen nicht, ihn zu
formulieren, so dass er klar und mitteilbar wurde, wollte nicht heraus aus ihren
Mündern.


Billi schaute traurig auf Lui, dieser ebenso auf Billi. In dem Augenblick
entzündete das alte Mütterchen ein Lampion und es erstrahlten das kreisrunde O
auf Billis und das winkelige V auf Luis Stirn. Und plötzlich verstanden sie.
„Juuih“, jauchzten sie, „mit unseren alten neuentdeckten Zeichen könnten wir es
bewerkstelligen“. Und in ihren Kehlen formten sich die passenden Laute dazu.
Aus dem unaussprechlichen Satz, EINE H_FFNUNGS LLE _ERKNÜPFUNG,
ihres früheren Alphabetes, gelang ihnen endlich, wie ersehnt,


„EINE HOFFNUNGSVOLLE VERKNÜPFUNG“.


Sie ließen das Los entscheiden, in welchem Land sie ihre Tage bis ans Ende
verbringen wollten.


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