2000

Tragikomödie zum Thema Erinnerung

von  Terminator


Damals für ca. 50 Mark gekauft: die teuerste jemals gekaufte CD. Ende April auf der ersten Fahrradfahrt nach Hannover und zurück (die Entfernung war ca. 50 km) das Album Reprise von Vangelis für 27 oder 28 Mark geholt. Youtube gab es damals nicht, es gab CD-Player. MJ oft gehört, Vangelis noch öfter. Ich kannte davor nur Conquest of Paradise, und hatte eigentlich auch nur nach einer CD gesucht, auf der dieser Track enthalten war.


Als wäre es eine andere Zeit? Nein. Eine andere Welt? Nein, das trifft es auch nicht. Es kommt mir heute vor, als wäre es ein anderes Leben. Aber es ist wohl dasselbe Kontinuum, in dem ich damals 17 war und heute 39. Im Mai kam ich auf ein Hochbegabten-Gymnasium nach Braunschweig für eine Woche. Die Unterbringung war extrem katastrophal und ich verhielt mich meiner Natur gemäß autistisch, sodass ich nicht einmal wusste, wo die Kantine war. Vor dem Hauptstück, dem IQ-Test, hatte ich einen ganzen Tag nichts gegessen und kaum getrunken. Dennoch wurde die Hochbegabung bei der Auswertung bestätigt. Im Februar 2000 erst wurde mir diese Schule nach einem bestandenen IQ-Test empfohlen. Die Hoffnung war groß, Jugendliche gleicher Art zu finden, und sie wurde bitter enttäuscht. Ich wurde von Hochbegabten genauso ausgelacht und verarscht wie damals in der Hauptschule (7. Klasse, 1996/97) von Idioten.


Ich war halt Stotterer. Wenigstens wusste ich, dass ich Stotterer war. Vom Autismus wusste ich nichts. Das Hochbegabten-Gymnasium sollte meine Rettung aus extremer sozialer Isolation sein, doch die Probewoche dort trieb mich noch weiter in die Isolation. Ich verlor die Hoffnung, Freunde oder zumindest eine angemessene Peer Group zu finden. Aber im Juni, als die EM 2000 stattfand, fuhr ich als Stotterer dorthin, wo sie stattfand. Ich war 10 Tage in Amsterdam und besuchte einen Kurs im Del Ferro Institut. Das war eine große Hilfe, seitdem hatte ich eine Methode, flüssig zu sprechen, die meistens auch funktionierte. Aber mit wem sprechen? Sich selbst laut vorzulesen, war kein Ersatz für die soziale Sprech-Situation. Nach der langen Halsentzündung von Ende September bis fast Ende Oktober und dem Aussetzen der Atemübungen kam das Stottern zurück. Ich wollte nur noch flüssig sprechen oder gar nicht. Das Garnicht trieb die mündlichen Noten in den Keller.


Das Schlimmste war die falsche Hoffnung, die vom christlichen Glauben ausging. Im Oktober 1998, um den 21. rum, "fand" ich "zu Gott" nach kultureller Vorbearbeitung und einer Broschüre von Werner Gitt. Ich war 15, suchte nach Sinn. Im Jahr 2000 war ich gläubiger Christ. Doch weil ich mich verarscht fühlte, radikalisierte ich mich immer mehr. Erst im Sommer 2001 wurde ich wieder zum Atheisten. Das Christentum war für mich wie eine zusätzliche Fessel für einen im Meer Ertrinkenden. Es gab Hoffnung auf Rettung, machte aber schwimmunfähig.



Juli 2000

Glück ist ein innerer Zustand, er kann nicht von außen bewirkt werden, und auch nicht von außen verhindert.


August 2000

Neue Schul, neues Glück. Melancholie zu Beginn des Monats, leichte Depression in den Zwanzigern. Ich attestiere in einem Rap-Song der Mehrheit einen "Lack of Depression" - als Erklärung, warum die meisten Menschen so unterirdisch oberflächlich sind.


Oktober 2000


Eine nicht nur fussballerisch erbärmliche Zeit. So trostlos alles. Ein Riesenglobus im Klassenraum  gegenüber dem Schulparkplatz für Fahrräder. Ein letzter, ungewollter Blick zu ihr hin. Ich hatte gehofft, sie wäre nicht im Raum. Was mag sie wohl gedacht haben? So ein Idiot. Hat er noch nie einen Globus gesehen? Dann Herbstferien. Die Halsentzündung verhindert jegliche Atemübungen und macht Monate harter Arbeit zunichte. Ich hatte bis dahin noch nie eine Atemwegserkrankung, die länger als eine Woche dauerte. Diese verweilte den ganzen Oktober lang. Mitte September war ich ein junger Mann, der auf andere Menschen zuging, wie man es ihn gelehrt hatte. Anfang November war ich ein mitschülermeidender und lehrerfeindlicher Stotterer, der nun gar nicht mehr sprach, da er nicht als Stotterer Ende August in die neue Schule kam, sondern gerade die Schule gewechselt hatte, um unbelastet neu anfangen zu können.


November 2000


Lass die Mücken auf deinen Fehlern reiten, und es werden Elefanten sein, die dich in den Boden stampfen.

Wenn ich an diesen Jungen denke, der so unverbesserlich gut war, dass er die Schuld dafür, wie Scheiße sie ist, auf sich nahm, um die Welt moralisch zu retten, und daran, wie wenig sie es zu schätzen weiß, dann denke ich manchmal, sie hätte einen Schurken mehr verdient.


   

Kalt und steril, wie die Stimmung in dieser mittlerweile legendären Ausgabe einer längst gecancelten Sendung im Ersten Russischen Fernsehen. Ich habe mir diese Folge im Jahr 2022 (damals unvorstellbar ferne Zukunft) zweieinhalbmal angeschaut, und es gruselt, wie sehr sie meine Stimmung im August-September 2000 wiedergibt: zwischen den Zeilen, in denen es um den Zynismus des neuen russischen Präsidenten Putin beim Umgang mit dem Untergang der Kursk (und der aus geheimdienstlichen Gründen unterlassenen Hilfeholung) ging.


Es ist eine seltsame Nostalgie, ein komplexes emotionlaes Bouquet, und ich weiß nicht warum. Ich kann mich nicht erinnern, diese Folge damals gesehen zu haben. Hatten wir schon russisches Fernsehen zu der Zeit oder erst 2001, 2002? Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte die Schule gewechselt, Klasse 11 in einem anderen Gymnasium nun, doch leider in derselben Stadt, die sich als das Grab meiner Schulzeit erweisen sollte. Auch das Verknalltsein in Bianca aus der 9 änderte nichts: die Emotion war stark, die Motivation war weg.


Seltsame Zeit. Das Lied jener Zeit löst bei mir heute dieselbe Stimmung aus wie die politische Sendung, aber nicht so intensiv. Dorenko war kein Outsider-Journalist, er kannte Boris Beresowski persönlich, sie duzten sich. Und doch geht eine tiefgründige Verzweiflung von ihm aus, als hätte er schon damals gewusst, wohin es mit Russland weiter geht. Nun war ich aber in Deutschland und hatte von der russischen Innenpolitik sehr wenig Ahnung. Ich hatte meine eigenen spätpubertären Sorgen, die sich von Monat zu Monat in absolute Verzweiflung verwandelten, die am 16.2.2001 erreicht war. Anfang September 2000 und Februar 2001 scheinen so weit auseinander zu liegen wie mindestens 10 Jahre.  






Anmerkung von Terminator:

4.4.2000


Man gebar ihn und fragt:
"Warum bist du geboren?"
Man schlägt ihn und fragt:
"Warum liegst du am Boden?"
Man sticht ihn mit´m Messer und brüllt:
"Tropf´nicht mit dein´dreckigem Blut!"
Man heizt ihn auf und schreit:
"Du hasst uns, daher deine Wut!"
Man verkrüppelt ihn und stellt fest:
"Du bist ja zu gar nichts fähig".
Man saugt sein Gehirn aus und meint:
"Du kannst ja doch gar nicht denken".
Man reißt ihm das Herz heraus.
"Wieso liegst du da wie ein Toter?"
Man wirft ihn in die Kälte hinaus.
"Zitter´doch nicht wie ein Trottel!"
Man wirft ihn ins Feuer und ruft:
"Wie kann man sich nur so verstellen?"
Er wird in die Hölle heruntergestuft.
"Es gibt viel´außer dir, die sich quälen".
Man zerschneidet ihn mit dem Messer.
"Warum denn lächelst du nicht?"
Man zersägt ihn lachend mit der Säge.
"Warum denn lachst du nicht mit?"
Man tötet ihn mit allen Mitteln.
"Womit bist du denn unzufrieden?"
Durch´s zynische Lächeln klingt es:
"Jeder will doch für dich nur das Beste".

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Kommentare zu diesem Text


 Naja (26.12.22, 09:15)
Tragikkomödie trifft es für mich nicht. Was Du hier so eindrücklich beschreibst, ist Realität in Deutschland. Besonders Kinder, die anders sind, haben und hatten es schwer.
LG von Naja

 Augustus meinte dazu am 26.12.22 um 17:25:
Die pädagogische sensibiliserung der Eltern ist heute weitaus fortgeschrittener als noch vor 20 Jahren. Eltern machen sich heute weitaus mehr Gedanken über den Namen ihres Kindes, damit es bspw. von anderen Kindern nicht gehänselt wird, Eltern Schulen ihre Kinder viel später ein, damit es nicht von älteren Kindern als schwach angesehen und geschubst wird. Andersartigkeit in welcher Weise auch immer in der Kindheit kann schnell zu mobbing ausufern. 

Dagegen gibt es heute Schulen, die speziell  Kinder mit einer Sprachstörung fördern. Oder aber Kinder, die hochbegabt sind. Oder Kinder, die eingeschränkt in ihrer körperlichen Bewegung sind.

 Terminator antwortete darauf am 26.12.22 um 22:16:
Tragikomisch ist nicht das Leid einer Situation, sondern das Verhalten des Subjekts, weil es im Nachhinein grotesk erscheint. Mit der Weisheit von Heute, die ohne die Erfahrungen von Damals nie entstanden wäre, lässt sich oft der unweise Kurzschluss denken: "Hätte bloß mein heutiges Ich mit dem Ich von Damals ein paar Stunden geredet!" Aber nein, damals hätte ich nichts verstanden.

Wie ein mittlerweile weiser Mann sagte, treffen wir die wichtigsten Entscheidungen, wenn wir am wenigsten wissen: die Grundlagen, die wir als Kinder für unser ganzes Leben schaffen (scheinbar banale Entscheidungen wie "Musikinstrument lernen oder nicht?" usf.) ; noch wichtigere Entscheidungen werden für uns getroffen, wenn wir Kleinkinder oder noch gar nicht auf der Welt sind. Als Erwachsene haben wir dann viel Wissen und Weisheit, und können sagen, was wir im Nachhinein hätten anders machen sollen, aber es ist zu spät.

 Verlo schrieb daraufhin am 10.01.23 um 18:22:
Nein, Terminator, es ist erst zu spät, wenn man nicht mehr lebt.

Bis dahin kann man immer wieder Optimierungsschleifen drehen. 

So wie man an einem Text über Jahrzehnte arbeiten kann, kann man auch sein Leben optimieren, bis es so ist, wie es hätte sein müssen bzw. daß es unter aktuellen Bedingungen den eigenen Wünschen entspricht. 

Voraussetzung ist: sich nicht zufriedengeben mit, nicht eingehen auf Forderungen anderer, die einem schaden. 

Das ist sogar einfacher, wenn man "behindert" ist: man ist weniger zugänglich fürs Bequatschenlassen, sagt nein und bleibt dabei.

Notfalls hat (simuliert) man einen Anfall, setzt sich auf den Boden und sagt immer wieder "nein, nein, nein, ...", als wäre man besessen. Dauert nicht lange, dann gibt der andere nach. 

(Ich war in einer Gruppe mit "geistiger Behinderung". Die sind so cool, daß ich mich wie ein Weichei gefühlt habe, weil ich mich immer wieder bequatschen lassen und jedes Mal mit meiner Gesundheit bezahle.)

Mein Tip: nicht warten, bis die äußeren Umstände besser werden, sondern die Sache selbst in die Hand nehmen.

Wer zB gedacht hat, nach Merkel wird es schon besser, ist bitter enttäuscht worden.
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