Die Sache von 1748

Text zum Thema Visionen/ Vorstellungen

von  Laporte

Sebastian Meiller ließ noch einmal seinen Blick über das Firmenschild gleiten, bevor er den Klingelknopf betätigte. Marty Grasser stand da zu lesen, und in der Unterzeile Rückführungen und Kontakte zu den Ahnen. Er hielt für einen winzigen Augenblick inne. Sollte er sich wirklich auf eine so unglaubliche Sache einlassen? Waren in dieser Branche nicht sowieso nur Schwindler unterwegs? Und welchen Schaden konnte er von einer Séance selbst davontragen? Die Zeit, diese Zweifel auszuräumen, hatte er jedoch nicht, denn mitten in seinen Überlegungen wurde die Tür geöffnet, und eine ältere Dame bat ihn herein und führte ihn durch ein kleines Atrium zu Grassers Behandlungsraum.

„Wenn Sie ihn ansprechen, dann entweder mit Herr Grasser oder kurz mit Meister“, klärte sie ihn auf und führte ihn bis zu seinem Schreibtisch. Grasser selbst, grauhaarig, braungebrannt, mit 3-Tage-Bart und ohne ein Gramm Fett am Leib, erhob sich und begrüßte ihn mit Handschlag. Er blätterte die Anmeldeformulare durch, die Meiller beim ersten Kontakt hatte ausfüllen müssen, und kam dann ganz schnell zur Sache.

 

„Sie wollen also Kontakt zu ihren Vorfahren, um im Gespräch einen Vorfall zu klären, der fast 300 Jahre zurückliegt“, resümierte er. „Ja, da sind Sie natürlich hier genau an der richtigen Adresse. Wir lieben solche Herausforderungen, haben beste Erfahrungen und eine sehr hohe Erfolgsquote.“ Meiller nickte brav.

„Würden Sie mir den Sachverhalt einmal genau schildern? Und bitte geizen Sie nicht mit Details.“ 

 

„Ich habe die Geschichte meiner Vorfahren bis ins 16. Jahrhundert verfolgen können. Mir fehlt eigentlich nur noch ein Mosaiksteinchen, und um genau das geht es mir hier. Der Fall ist ziemlich einfach zu beschreiben: Wir schreiben das Jahr 1748. Mein Vorfahre Louis de la Meilleraye, wohnhaft in Florac im Languedoc, war Notar und Steuereinzieher. Er unterstand mit dieser Aufgabe dem König direkt. Eines Tages in besagtem Jahr 1748 wurde die gesamte Familie, auch die Frauen und Kinder, ohne Angabe von Gründen verhaftet und abgeführt. Es gibt eigenartigerweise kein einziges Dokument darüber. Zufällig spielte der jüngste Spross der Familie bei Nachbarskindern auf deren Hof und entging so dem Zugriff der Soldaten. Er ist übrigens mein Stammvater, der zwölf Jahre später nach Deutschland auswanderte. Ich möchte nun Kontakt mit Louis aufnehmen, weil ich wissen will, was damals passiert ist.“

Grasser machte sich ein paar Notizen. „Das ist in der Tat eine geheimnisvolle Geschichte. Gibt es noch weitere Details?“

„Nein, leider nicht.“

„Gut, dann gehe ich wie folgt vor. Wenn Sie Einwände haben, unterbrechen Sie mich bitte. Es soll nichts geschehen ohne Ihr Einverständnis. Ich versetze Sie jetzt in einen Trancezustand, und dann rufen Sie Ihren Verwandten. Dabei helfe ich Ihnen.“

„Würden Sie mir erklären, wie genau das funktioniert. Das Ganze ist so unfassbar für mich. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen“, bekannte Meiller.

„Sie müssen wissen, dass jeder Mensch die Informationen seiner Vorfahren und die Daten von Geschehnissen aus vergangenen Epochen in sich trägt und an die nachfolgende Generation weitergibt. Sie sind in den Genen und Zellen gespeichert und müssen mit meiner Hilfe sozusagen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche geholt werden. Dort können sie entweder als Sprachinformation, etwa durch Frage und Antwort, genutzt werden. Oder Ihr Körper verwandelt mittels der eigenen Energie die Informationen in Bilder. Das ist stark vereinfacht die Methode, nach der ich arbeite. Um die Informationen an die Oberfläche zu bekommen, benötigen Sie meine Hilfe. Deshalb werde ich bei der gesamten Sitzung bei Ihnen sein.“

Meiller nickte und traute sich nicht, den Meister weiterhin mit Fragen zu löchern. Das Gesagte reichte ihm, um sein Vertrauen in ihn zu bestätigen.

„Wir können dabei keinerlei Ablenkung gebrauchen“, erklärte Grasser abschließend. „Ich ziehe die Vorhänge zu und schließe die Fenster. Auch das Atrium wird abgedunkelt. Sind Sie bereit?“

Meiller nickte.

 

*

 

Natürlich hatte Meiller nicht die geringste Vorstellung von dem, was während der Sitzung tatsächlich in diesem Hause vor sich ging. Grasser hatte die Schaffung von Bildern als oberstes Ziel eines jeden Ahnenkontaktes ausgegeben, denn der Anblick eines Ahnen war der erklärte Wunsch eines jeden Klienten. Dafür wurde nicht nur am meisten bezahlt, sondern er garantierte auch, dass es zu einer zweiten und dritten Sitzung kam und das Erfolgserlebnis im Gedächtnis der Betroffenen haften blieb. Und deshalb war ein Bild auch für die Weiterempfehlung unentbehrlich. Um es zu erzeugen,  bediente er sich eines ebenso einfachen wie genialen Tricks: Er setzte seinen Assistenten Kurt als den gesuchten Ahnen ein und ließ ihn in einer der jeweiligen Zeit entsprechenden Aufmachung in einer sicheren Entfernung durch das Sichtfeld der in Trance versetzten Person schweben.

 

*

 

„Dieser urbequeme Ledersessel gehört jetzt Ihnen“, begann Grasser und deutete auf das Möbelstück, das so aufgestellt war, dass der Benutzer die offene Tür zum Atrium im Blick hatte. „Bitte setzen Sie sich hinein und lehnen Sie sich so weit zurück, bis Sie die für Sie bequemste Position gefunden haben.“ 

Meiller tat, was der Meister verlangte, nahm eine leichte Rückenlage ein und nickte ihm zu als Zeichen, dass er für die Hypnose bereit sei. Daraufhin hieß ihm Grasser, beide Arme waagerecht auszustrecken und die Handinnenflächen so zu stellen, dass sie zueinander zeigten.

„Gut so“, lobte er Meiller. „Nun stellen Sie sich vor, Ihre Handflächen seien magnetisch und wollen sich gegenseitig anziehen. Aber Sie wehren sich dagegen, dass sie sich berühren.“ Grasser beobachtete, wie sein Klient versuchte, die Hände auseinanderzuhalten. Aber Meillers Arme wurden zusehends kraftloser und Sekunden später trafen die Handflächen aufeinander. Im gleichen Augenblick senkte er beide Arme, als sei er völlig erschöpft, schloss seine Augen und befand sich in einem Zustand tiefster Trance. „Öffnen Sie Ihre Augen“, fuhr er in ruhigem Ton und mit sonorer Stimme fort. „Können Sie die offenstehende Tür und das Bücherregal rechts daneben erkennen?“

„Ja, kann ich. Etwas verschwommen zwar, aber sonst ist alles gut erkennbar.“

„Gut, dann fangen wir an. Ich rufe jetzt Ihren Ahnen, und Sie tun es auch. Sie können meine Worte benutzen.“ Meiller nickte.

 

„Louis de la Meilleraye, wir rufen dich. Kannst du uns hören?“, begann Grasser, und Meiller wiederholte den Wortlaut.

„Louis de la Meilleraye, kannst du uns hören?“ rief Grasser ein weiteres Mal. „Bitte zeig dich.“

Meiller hatte schnell verstanden, wie das Anrufen vor sich ging, und ergriff selbst die Initiative: „Louis de la Meilleraye, hier ist dein Nachfahre Sebastian Meiller. Ich trage deinen Namen, auch wenn er eingedeutscht ist. Willst du Kontakt mit mir aufnehmen?“ In einer Haltung höchster Erwartung wartete er mit aufgerissenen Augen. Doch nichts geschah. 

„Wir müssen ihm etwas Zeit lassen“, flüsterte Grasser. „Warten Sie, bis ich weitermache. Und konzentrieren Sie sich. Wenn Sie ihn nicht sehen, können Sie ihn vielleicht hören. Sie müssen mir das dann sofort sagen, verstehen Sie?“ 

 

Die Zeit verrann, und Meiller sah nichts und hörte nichts und fühlte nichts. Kein Zeichen irgendwelcher Art, er spürte nur, wie er immer aufgeregter wurde und sein Puls stetig zunahm. Es müsste doch jeden Augenblick etwas passieren. Schließlich hatte der Meister doch gesagt, dass die Erfolgsquote sehr hoch sei.

 

„Wir wiederholen das Ganze“, empfahl Grasser nun, und Meiller war sogleich voll bei der Sache und übernahm das Rufen. „Louis, du und ich, wir sind aus demselben Fleisch und Blut, gib mir ein Zeichen, dass du mich hörst. Lass mich deine Stimme hören oder dein Gesicht sehen.“

Grasser stand schräg hinter dem Sessel und nickte zustimmend, was Meiller ermutigte, seinen Ruf zu wiederholen. Da kam plötzlich Bewegung in die Szene. Wie besessen starrte er auf die offene Tür, und tatsächlich schien Louis de la Meilleraye seinen Nachfahren erhört zu haben.

Was nun hinter dem Türrahmen in Erscheinung trat, war eine Figur wie aus einem pompösen Historienfilm. Louis schien wie dem höfischen Leben des 18. Jahrhunderts entstiegen: Er trug ein türkisfarbenes sogenanntes justeaucorps, bestehend aus einer Weste und einer langen Jacke, beide mit Bordüren, viel Brokat und verzierten Knöpfen versehen. Um seinen Hals war ein Seidenschal gelegt. Das Einzige, das fehlte, war die für diese Zeit übliche Perücke. Stattdessen präsentierte er sein dunkles welliges Naturhaar. Seine culottes, die typischen engen Hosen, waren wie auch seine Beine nicht zu sehen.

Wie in einem Stummfilm bewegte sich Louis hinter der Tür, und es schien, als würde er vorbeigleiten. Sein Körper war aufgerichtet, sein Hals gänzlich gestreckt und sein Kopf ganz leicht in den Nacken gelegt, die Haltung hochnäsig arrogant, fast herablassend. Dazu sein Blick: von oben herab, fast ein wenig aus den Augenwinkeln, auf Distanz bedacht, als wollte er seine eigene Person vor einem unwürdigen Kontakt schützen. 

Meiller starrte die Erscheinung mit eisernem Blick an, und Grasser konnte sich vor Begeisterung kaum beherrschen. Für Meiller nicht hörbar, lobte er seinen Assistenten im Flüsterton: „Bravo, Kurt, was für ein grandioser Auftritt, wie auf den Leib geschnitten. So habe ich dich ja noch nie performen gesehen. Phantastische Mimik! Chapeau!“ 

 

Die Erscheinung blieb für eine Sekunde stehen, schaute mit stechendem Blick auf Meiller – und ging weiter, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Meiller war ganz hingerissen. Das war doch genau das, weswegen er diese Prozedur auf sich genommen hatte. Wie gern würde er seinem Ahnen ins Gesicht schauen, mit ihm reden und diesen mysteriösen, unerklärlichen Vorfall von 1748 aufklären. Doch bis das möglich war, fürchtete Sebastian Meiller, müsste er noch einen viel näheren Kontakt zu Louis herstellen. Leider tendierte dessen Verhalten eher zum Gegenteil: Er schien ein weiteres Mal im Zeitlupentempo an der offenen Tür vorbeizuschweben, war für etwa eine Minute nicht mehr zu sehen, schritt dann in gleicher Geschwindigkeit abermals an der Tür vorbei, schaute nun gar nicht mehr in Meillers Richtung, wurde immer kleiner und undeutlicher und verschwand schließlich im Dunkel des Atriums.

Meiller wiederholte pausenlos das Rufen, auf das Louis zuvor reagiert hatte, aber von der schillernden Ahnenfigur war nichts mehr zu sehen. 

Grasser wartete noch zehn Minuten, bis Meiller sich beruhigt hatte, und brach dann das Experiment ab. Mit einem Fingerschnipsen holte er seinen Klienten in die Realität zurück, maß seinen Blutdruck, weil ihm zuvor ein leichtes Herzrasen aufgefallen war, und entließ ihn.

„Ich bringe Sie noch zur Tür“, sagte Grasser. „Wir sind heute schon sehr erfolgreich gewesen und sollten noch eine Sitzung dranhängen, bis Ihr Vorfahr zu einem Gespräch bereit ist. Machen Sie telefonisch einen Termin mit meiner Sekretärin aus.“

„Ja, sehr gern, Meister. Ich muss sagen, Sie sind ein Phänomen. Auf Wiedersehen.“

 

Als Grasser in sein Behandlungszimmer zurückkehrte, wunderte er sich, dass sein Assistent Kurt noch nicht da war. Das war gegen alle Gewohnheiten; normalerweise nahmen sie nach solchen Aktionen gemeinsam einen Drink. So machte er sich auf, seinen Assistenten in der Requisitenkammer aufzusuchen. Wahrscheinlich dauerte es etwas länger, aus diesen engen Klamotten zu steigen, mutmaßte er. Er öffnete die Tür und wunderte sich über die Dunkelheit im Raum, und noch bevor er das Licht anschalten konnte, stieß er mit dem Knie gegen eine Stuhllehne. Hastig griff er an den Lichtschalter und stellte tief erschüttert fest, dass Kurt unbeweglich auf einem Stuhl saß, an den er mit einer schweren Eisenkette fixiert war. Seine Handgelenke befanden sich in zwei massiven, überdimensionierten eisernen Schellen, wie man sie bis ins 19. Jahrhundert für Inhaftierte und Eingekerkerte verwendet hatte. In seinem Mund befand sich ein rotes Taschentuch, das zu einem Knoten verdreht war und jeden Hilferuf erstickte. Die Vorderseite seiner roten Jacke wies dunkle Rostflecken auf, die vermutlich von der Kette stammten. Die silbergraue Perücke war ebenfalls durch die Kette beschmutzt und war ihm fast vom Kopf gerutscht.

Grasser wurde immer bleicher, je länger er sich seinen Mitarbeiter betrachtete. 

„Wer war das?“, kreischte er, während er das Taschentuch aus Kurts Mund zog. „Wer war der Kerl, wenn du es nicht warst?“

„Das willst du nicht wirklich wissen, Marty. Wirklich nicht!“, stammelte Kurt immer noch benommen und fragte sich, wie er die schweren Handschellen mit den unförmigen Schließen wieder loswerden könnte.

 

  

 

 

 

 

 



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (16.06.23, 14:16)
"on 1948"- das finde ich doch etwas arg jugendlich formuliert.
Und was ist diese "Sache v"?

 Laporte meinte dazu am 16.06.23 um 14:59:
Danke Dieter Rotmund,
dass du den Vertipper gemerkt hast. Natürlich muss es "von 1748" heißen, sonst ergibt die Sache ja keinen Sinn. Alles Weitere entnimm bitte dem Text. Da heißt es: Wir schreiben das Jahr 1748 ...
Gruß
Laporte
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