Milon - Erinnerungen an einen Freund

Text

von  Elia

Immer, wenn ich mich verliebe, vernachlässige ich sträflich folgende drei Fragen: Gibt es diese Liebe wirklich? Tut mir und anderen diese Liebe gut? Hat diese Liebe mehr Vorteile als unangenehme Nebenwirkungen? Das Resultat meiner Ignoranz muss ich nicht beschreiben. Jeder Mensch kennt es aus eigener Erfahrung. Ganz anders ist es mit der Freundschaft und deshalb möchte ich hier eine Freundschaft würdigen und mit ihr die Freundschaft sowieso. Die Freundschaft hat es leicht. Sie kann ein Leben lang halten. Das tut sie aber vor allem, wenn man sie in der Kindheit schließt und auch in späteren Jahren pflegt. Lernt man sich im mittleren Alter kennen, ist Freundschaft ein angenehmer, aber oft vorübergehender Zustand und erinnert an Mitreisende in einem Zugabteil, die einsteigen, eine Zeit mit einem verbringen und sich dann wieder verabschieden, ohne dass man daran zerbrechen würde, weil sie an dieser Station ausgestiegen sind und man die Reise allein fortsetzen muss. Freundschaften tun immer gut, sonst gäbe es sie nicht und wenn man sich verliert, bleibt eine gute Erinnerung. So ist es mit Milon.


Anfang der 2000er Jahre lernte ich Milon beim Schreiben in einem Autorenforum kennen. Er schrieb mich an, weil ich ein Gedicht mit dem Titel „Treppenszene“ veröffentlicht hatte. Die Szene entstammt dem Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ und ich war von ihr beeindruckt, weil sie archetypisch die Mutter mit dem toten Kind abbildet, eine nicht religiöse Pietà. Milon freute sich, dass jemand an Sergei Eisenstein erinnerte und ich nahm sein Lob kommentarlos entgegen, weil mir bewusst war, dass er mit seiner mehr oder weniger sozialistischen Sozialisation einen anderen Zugang zu dem Film haben musste als ich, die ich nur diesen eine Szene aus dem Film kannte und aus dem Westen kam.

Nachdem wir in der Folge oft und lange über Lyrik geschrieben hatten, trafen wir uns in Köln, wo er an einem Kongress teilnahm. Ich traf vor dem vereinbarten Zeitpunkt in Köln ein und setzte mich zum Ankommen in das kühle Schiff des Doms. Draußen auf der Domplatte wimmelte es von Menschen. Wie sollte ich Milon, den ich zuvor nie gesehen hatte, da erkennen? Plötzlich meldete sich mein Handy, ein altes Nokia, mit dem ich zuvor nie einen Anruf empfangen hatte. „Ich stehe vor dem Hauptportal. Wo bist Du?“ So fanden wir uns und ich war erleichtert, dass er mir vertraut erschien.

Wir setzten uns an den Rhein und tranken Kaffee. Ein Trödelverkäufer kam vorbei, er kaufte ihm einen Schlüsselanhänger mit Eichhörnchen ab und schenkte ihn mir. Außerdem er überreichte er mir ein selbst gemaltes Ölbild, das den Blick aus der Küche seiner früheren Wohnung auf den Hausberg seiner Heimatstadt Jena zeigte. Ich spürte, dass er Jena liebte. Unser Geplauder an jenem Tag war ein höfliches Kennenlernen. Irgendwann in diesem Gespräch kamen wir aber auf seinen Beruf zu sprechen und mir unterlief ein schwerer Fehler. Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend beschämende Erfahrungen im Sportunterricht gemacht und war noch zu jung, um aufgrund von Schmerzen in allen Körperteilen den Sport trotzdem wertzuschätzen. Er hingegen bildete Sportlehrer aus. Das Desaster meiner Demütigung bei Bundesjugendspielen kam mir in den Sinn und mir entfuhr: „Alle Sportlehrer sind Folterknechte.“ Ein Schatten lief über sein Gesicht und er empfahl mir, das Buch „Folterknechte“ eines mir bis dahin unbekannten Autor zu lesen. Nun aber stand mein Wort zwischen uns stand und ich versuchte es verständlich zu machen, indem ich von meinen Erfahrungen im Sportunterricht erzählte, dennoch spürte ich, dass mir das nicht ganz gelang. Weil mir die Situation wirklich leidtat, kaufte ich später das Buch. Ich wollte ihn besser zu verstehen, aber ich las nur wenige Seiten, denn auch Bücher können traumatisieren und dieses ganz sicher. Erst vor kurzem habe ich es weggeräumt und nun, wo ich mich nicht erinnern kann, wie der Autor hieß, stelle ich fest, dass Google unter dem Begriff „Folterknechte“ viel zu viel Aktuelles zu bieten hat, als dass ich fündig werden könnte.

Wir beschlossen jenen Nachmittag am Rhein trotz genannter Unstimmigkeit freundschaftlich und bei unserem Abschied im Foyer des Kölner Sportmuseums lud er mich ein, ihn zu besuchen.

Ein Jahr später reiste ich über Kassel, Eisenach, Erfurt und Weimar in seine Heimatstadt. Ganz oben in einem das Stadtbild prägenden Hochhaus, dem Jentower, tranken wir Kaffee und besuchten anschließend eine Weinhandlung, da er meinte, ich müsse eine der wenigen alljährlich gekelterten Flaschen Saalewein mit nach Hause nehmen. Ein weiteres Jahr später kam er zu Besuch nach Dortmund, um bei einer Lesung in einem Schrebergartenprojekt seinen Sonettkranz zu präsentieren. Aus dem Kofferraum seines Wagens zauberte er mehrere Flaschen Rotkäppchen-Sekt, den auch der entstammte ursprünglich dem Saale-Anbaugebiet. Das recht arrogante Publikum spottete. Rotkäppchen-Sekt hatte keinen hervorgehobenen Wert. Ich hatte den Impuls ihn zu beschützen, aber er trug es mit Fassung. Seither gibt es bis heute bei mir bei allen besonderen Gelegenheiten, insbesondere an Weihnachten und Silvester, nichts anderes zu trinken als Rotkäppchen-Sekt, auch wenn der inzwischen aus Rhein-Hessen kommt und auch, wenn Milon das nie erfahren hat.

Wir blieben noch eine Zeit in Kontakt. Während er ein Studiensemester im Archiv verbrachte, arbeitete ich an einer wissenschaftlichen Arbeit zur Trauer beim Tod nahestehender Menschen. Da ihn dieses Thema auch biografisch berührte, tauschten wir uns dazu aus. So hielt er die Langeweile der Archivarbeit ein wenig besser aus und ich die tiefe Traurigkeit, die das Thema in mir auslöste. Am Ende übersendete ich ihm mein Werk, aber er kommentierte es nicht. Ich vermute, er hatte als Psychologe mehr empirisch gewonnene neue Forschungsergebnisse erwartet, aber es enthielt nur eine Gesamtschau des aktuellen Forschungsstandes und daraus abgeleitet einige Folgerungen für die Trauerbegleitung. Erst als die erwartete Anerkennung ausblieb, wurde mir bewusst, dass er aus einer empirischen Wissenschaft kam, ich aus einer normativen und angewandten.

Nach einige Jahren in jenem Lyrik-Forum wurde es mir zu viel. Jede Nacht bis 24.00 Uhr zu wachen, um neue Texte möglichst lang unter „News“ zu stellen und so Aufmerksamkeit zu erzeugen, wurde mir zu anstrengend, ebenso der permanente Zwang, irgendwelche Texte zu kommentieren, um im Gegenzug ebenfalls Kommentare zu ernten. Ich war süchtig geworden, musste täglich etwas posten und erkannte, dass meine Texte immer langweiliger wurden, weil sie stets um dieselben Themen kreisten. Ich brauchte echtes Leben, um mein Schreiben zu füttern und das würde mir zum Schreiben keine Zeit mehr lassen. Eines Tages beleidigte ich unbedacht eine Mitautorin wegen ihres Alters und schämte mich, weil ich erkannte, dass ich selbst begann, damit Probleme zu haben. Daraufhin war Schluss. Ich meldete mich ohne Abschied ab und kehrte nicht wieder. Die „Entzugserscheinungen“ währten kurz und ich war so verwundert wie erleichtert, dass mir niemand „folgte“. Mein schlechtes Gewissen gegenüber Milon beruhigte ich damit, dass er meine Adresse hatte, aber er nutzte sie nicht.

Lange Jahre danach fühlte ich mich in der Lage passiv und als Gast zu schauen, was es in jenem Autorenforum Neues gab.  Bestürzt erfuhr ich aus dem Text eines mir unbekannten jungen Mannes, der Milon offensichtlich nahestand, dass Milon wenige Monate zuvor verstorben war. Obwohl sein Tod nicht plötzlich gekommen war, hatte er die Krankheit nicht zum Anlass genommen hatte, sich zu verabschieden. War er zu enttäuscht gewesen, weil ich mich einfach so „verdrückt“ hatte? Oder war ich gar nicht oder nicht mehr wichtig genug gewesen? Ich musste eingestehen, dass auch ich ihn in einer solchen Lebenslage nicht gesucht hätte. Es gibt zu viele reale Menschen in meinem analogen Leben, die da sind, solche, die neu dazukommen, wichtig werden und wieder gehen. Wie ich übte Milon einen pädagogischen Beruf aus und das bedeutet, dass man sich ständig auf neue Menschen einstellen, Kontakte knüpfen und vertiefen „muss“, sie dann aber auch ohne Protest wieder gehen lässt. Ich hoffte, dass es bei Milon im Hinblick auf mich ebenso gewesen war.

Im Frühjahr 2019 legte mir einer meiner Studierenden eine Arbeit vor, in der er Begriffe aus dem Regelkreismodell der Bewegung verwendete, die mir unbekannt waren. Er hatte zuvor Sport studiert und wollte mir offensichtlich beweisen, dass er in diesem Bereich etwas kannte und konnte. Er hätte mir das nicht beweisen müssen, aber natürlich musste ich seine Ausarbeitung verstehen. Ich beschloss, mich nicht bei Wikipedia zu informieren, sondern erstand im Internet das letzte antiquarisch zu erstehende Exemplar eines von Milon verfassten Fachbuchs zur Bewegungslehre. Damit „übersetzte“ ich die Arbeit meines Studierenden. Ich glaube, Milon hätte sich darüber gefreut.

Nachdem mir das Reisen wegen einer Erkrankung für mehrere Jahre nicht möglich war, machte ich im Juli 2022 drei Tage Urlaub in Erfurt, einer so überraschend schönen Stadt, dass ich zum Spaß die Immobilienpreise für eine Ruhestandwohnung erkundete. Ich wanderte auf den Petersberg, wo ein warmer, aber erstarkender Sommerwind das nächste Gewitter ankündigte. Bei jagenden Wolken blickte ich von der Zitadelle hinunter auf die Altstadt, den Dom und die Severikirche und betrachtete ein Video, das Milon mit seinen Sportstudierenden zu einer „Langen Nacht der Bildung“ erstellt hatte sowie den Nachruf der Erfurter Uni nach seinem Tod. Das Video beginnt mit den Worten: „Der Mond schien, die Sterne waren zu sehen und man hat natürlich schon das Gefühl von Zeitlosigkeit bekommen, also das Gefühl sich zurückzuversetzen in …“. Nach dieser lyrischen Einleitung folgte, wie „brutal schwer“ in der Antike ein Diskus war und wie hoch die Leistung, ihn zu schleudern, zu bewerten ist. Natürlich sind Sportlehrer keine Folterknechte. Ich habe das „reale Leben“ längst genutzt und auf meine alten Tage einen Trainerschein im Breitensport erlangt. Was er dazu wohl sagen würde?

Ich blieb bis zu den ersten Regentropfen auf dem Petersberg und versuchte, mir vorzustellen, wie Milons Arbeitsleben als Professor in dieser tollen Stadt gewesen ist. Es war ein friedvoller, wenn auch sehr später Abschied.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (21.09.23, 15:59)
Ach, die Bundesjugendspiele...
Habe nie verstanden, warum sich diese bei manchen so ins Gedächtnis gebrannt haben.
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