Der letzte Kitsch

Text

von  Lilo

Wir waren seit mehr als einem Jahr umeinander herumgeschlichen. Zwei ausgemergelte Löwen mit zerschlissenem Fell, die sich anfallen wollten und miteinander Kätzchen spielten. Es war kein elegantes Schleichen. Eher ein Hinken. Die Dielen der Altbauwohnung knarzten bei Enno anders. Als ahmten sie das Seufzen nach, das ich hinunterschluckte. Unsere Begegnungen waren zufällig, jedes Mal fuhren wir ineinander, als sähen wir uns zum ersten Mal. Sein schmales Gesicht, das dichte Haar. Die nassen Augen. Und die von Kokain total zerstörte Nase. Sie gab ihm etwas Verwegenes. Ich schalt mich und schämte mich, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Er war ein Wrack. Ein Wrack. Wrack. Das ist ein echter, kaputter Mensch, kein Antiheld aus dem Fernsehen zum Anschmachten! Ich sagte mir das unaufhörlich. Mein Bewusstsein war da und streng. Und hilflos. Enno. Selbst sein Hinken machte mich an. Die Art, wie er meinen Namen aussprach, immer zweimal hintereinander, haspelnd, mit heiserer Stimme. Die Aufmerksamkeit, um die er unentwegt bettelte. Es war egal, was wir sagten, es hieß immer, ich will dich. Ein Scheißbann. Dazu banal.

 

Enno hatte eine Freundin. Enno war Alkoholiker und kokainabhängig. Enno war Theos bester Freund. Er kam häufig zu Besuch. Sie saßen einander in der Küche gegenüber. Theo auf dem Holzstuhl, Enno auf dem Küchensofa. Wenn ich in die Küche kam, sah er mich an, als würde die Sonne aufgehen. Für eine Weile setzte ich mich zwischen die beiden und rauchte. Ich konnte es nicht lassen, ein Stückchen Gegenwart von Enno zu erhaschen. Seine Geschichten langweilten mich oft. Sie stießen mich sogar ab. Sie handelten von Drogen und Drogen. Prostituierten. Wodka. Schlägereien. Unfällen. Und Drogen. Ich hörte kaum zu. Außer, wenn er von seinen Eltern sprach. Wie er als 13-Jähriger, „hey Papa“ gerufen hatte und der ihm dafür in den Bauch geboxt hatte. Wie er sich weinend zusammenkrümmte und die Mutter meinte: „warum hast du ihn auch so provoziert?“. Von seiner Todesangst. Ich wollte ihn streicheln, sein Gesicht in meine Hände nehmen. Stattdessen zündete ich mir noch eine Zigarette an, schaute auf seine Hände und fragte: „du hast Neurodermitis?“. Enno stand immer plötzlich vor der Tür. Und dann gar nicht mehr. Theo hatte es satt, von Enno um Geld angeschnorrt zu werden, von dem er sich doch nur Kokain kaufte. Ich war erleichtert und vermisste ihn.

 

Als er wiederkam, hatte er abgenommen. Die Freundin hatte ihn verlassen. Er hatte einen Platz in einer Entzugsklinik zugesagt bekommen und sich mit Theo vertragen. Es war Sonntagmittag. Ich war dabei, mir etwas zu essen zu machen. „Ist Theo da?“ „Keine Ahnung, habe ihn heute noch nicht gesehen“. Ennos Kinn war blutig. Enno klopfte an Theos Zimmertür, er schlief noch. Dann kam er zu mir in die Küche. „Dein Kinn ist ganz blutig“, sagte ich. Enno stand dicht vor mir. „Wo?“, fragte er und hypnotisierte mich, die alte Schlange Kaa. Ich sah mir dabei zu, wie ich eine Hand hob und ihm vorsichtig übers Kinn strich. In Zeitlupe. Ich war in diesem Scheißbann. Und ich saß vor dem Fernseher meines Lebens und wie jedes Fernsehpublikum wusste ich, was diese Geste bedeutete, was sie eigentlich bedeutete, wohin sie führen würde. „Was machst du da?“, schrie ich mich in meinem Kopf fassungslos an. „Spinnst du?“. Wir sahen uns natürlich in die Augen. Warscheinlich hatte ich die Lippen leicht geöffnet. Der letzte Kitsch. Die letzte schwüle Stimmung in irgendeiner Soap Opera. Cut.

 

Ich schlief mit einem anderen, um mich abzulenken. Aber es kam kein Funke auf. Zwei Tage darauf kam Enno wieder. Er saß in der Küche auf dem Sofa, Theo auf dem Stuhl. Alles wie immer. Enno sprach von seiner Nase. Erzählte, wie viel Kokain er sich schon reingezogen hatte. „Weißt du, Enno“, sagte ich, „das beeindruckt mich nicht“. Er sah mich an, verletzt. Theo verließ die Küche. „Aber ich will damit gar nicht beeindrucken“, sagte Enno mit einem Kinderblick, „das ist nur der Sarkasmus mit dem ich auf mein Leben schaue, um es zu ertragen“. Mein Magen zog sich zusammen. Ich ging vor ihm in die Knie und sah auf seine Hände. „Ja“, sagte ich, „es tut mir leid“. „Gehst du mal was trinken mit mir oder ins Theater?“, fragte Enno. „Geh du erstmal in die Klink“. „Also ja?“ „Geh du erstmal in die Klinik“. Ich hätte nein sagen sollen.

 

Irgendwann werde ich genug haben von diesen Antihelden. Sie werden immer gebrechlicher mit den Jahren und ihre Geschichten langweiliger. Irgendwann sind sie auch nicht mehr schön. Bis dahin rede ich mir ein, dass ich Material sammeln muss, um einen Roman schreiben zu können, in dem ich den Kern ihrer Verletzlichkeit herausschäle und das ganze seichte Antiheldentum ein für alle Mal zu Grabe trage. Enno wird der letzte Kitsch sein, mit dem ich es allen beweise: dass ich die Welt nicht retten kann.


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Kommentare zu diesem Text


 Rosalinde (18.10.23, 13:32)
Du musst ja nicht gleich die Welt retten. Aber dass dein Enno Hilfe braucht, siehst du das ein? 

Du willst einen Roman schreiben über Enno? Lass es sein, schlepp ihn in die Klinik, davon hast du sicher mehr. Bin gespannt, was andere User dazu sagen.

Lieben Gruß, Rosalinde

 eiskimo (13.11.23, 08:27)
Du lässt uns schnörkellos teilhaben an einer desolaten Szenerie. Bleibt man jetzt nur Voyeur oder zieht man daraus irgendwelche Lehren?
Vielleicht die Welt doch retten, wenigstens die Kinder?
Gruß
Eiskimo
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