Die Meditationen des Herrn Rost (Sechste Meditation - Auszug)

Text

von  autoralexanderschwarz

„Die Bühne, auf der wir Ich um Ich zu einer Geschichte aneinanderreihen, ist in ständiger Bewegung“, schrieb er, „doch wenn man genau hinschaut, finden die meisten Veränderungen vorne, auf der Rampe, statt. Der Hintergrund, das Bühnenbild, fällt einem zumeist nur auf, wenn er sich verändert.

Die Straße, das Haus, die Wohnung, in der ich lebe, die Schule, an der ich arbeite, sind die häufigsten Kulissen und diese sind vielleicht das Einzige, was ich beeinflussen kann. Deswegen sagen die Orte, an denen wir uns aufhalten – das Wort sagte es eigentlich schon –, auch so viel über uns; nicht weil wir dort sind – der Zufall führte uns hierher –, sondern weil wir geblieben sind.

Das bedeutet aber auch, dass wir für die Welt um uns herum verantwortlich sind. Nicht in dem Sinne, dass wir ihr irgendetwas schulden, sondern dass wir das, was wir sehen, ausgewählt haben.

Wenn man sich zu sehr auf die Handlung konzentriert, übersieht man das leicht.

Wenn man sich zu sehr mit dem Charakter identifiziert, den man gerade spielt,

vergisst man allzu schnell das Ich, das unter diesem verborgen ist.

Über das, was wir geworden sind, vergessen wir, was wir eigentlich wollen.

Wir dürfen nicht verlernen uns selbst zu fühlen und

wir brauchen kein Wissen, keine Recherche,

um etwas über uns selbst herauszufinden.

Wir müssen nur bereit sein, tief in uns hineinzuhorchen

und dürfen auch nicht direkt aufgeben,

wenn wir nicht verstehen,

was wir da zu hören glauben.

Wir müssen uns freilegen:

Von dem, was andere von uns wollen.

Von dem, was gemeinhin gewollt wird.

Wir müssen uns durch all die störenden Geräusche hindurchhören

und dann, wenn wir uns wirklich selbst hören können,

müssen wir dies mit dem abgleichen,

was wir sind.

Nur so können wir uns eine Richtung geben.

Nur so können wir uns in Bewegung setzen.“


Er legte den Stift beiseite und las die letzten Zeilen, störte sich an dem inflationären Einsatz des Wortes „wir“, das er in Klausuren gerne unterschlängelte, dachte einen Moment nach und ergänzte die Frage, die ihm durch den Kopf schoss.

„Warum aber sollen wir das tun?“

Er stand auf, ging hinüber in die Küche, um einen neuen Kaffee aufzusetzen und dachte dabei, dass die Frage falsch gestellt war. Es ging ja darum, was man wollte:

Warum also sollte man es nicht tun?

Warum sollte man nicht nach dem streben, was man wollte?

Warum sollte er nicht woanders hingehen, wo es schöner war?

Warum sollte er nicht mit ihr zusammen gehen?“

Das, was wohl die meisten Menschen dazu trieb, ihre eigenen Bedürfnisse zu überhören, war nichts als die Illusion einer Sicherheit, die es ja gar nicht gab. Alles konnte ja schließlich jederzeit passieren. In allem, was existierte, war bereits der Keim seiner Zerstörung angelegt.

Der Flug in ein neues Leben konnte jederzeit in einer Katastrophe enden,

aber auch in das alte Leben konnte jederzeit ein Flugzeug stürzen.

Irgendwie war das befreiend.




Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Die Erzählung ist soeben (endlich!) erschienen.

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (25.10.23, 16:16)
Irgendwie war das befreiend.
Das ist der beste Schlußsatz ever, bravo!

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 29.10.23 um 18:52:
Das ist wohl zuviel der Ehre, aber ohne Frage sehr nett und erbauend. Vielen Dank dafür.
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