Tauben und Menschen (Anfang)

Text

von  autoralexanderschwarz

Sie kamen zu zweit und anfangs störten sie auch gar nicht. Sie saßen meist einfach nur da, gurrten und rieben ihre Köpfe aneinander. Erst als sie begannen kleine Äste und Zweige auf dem Balkon zu tragen, wurde Herrn R. bewusst, dass dies nicht nur als Besuch gedacht war, sondern dass die Tauben beschlossen hatten zu bleiben. Dies wiederum störte ihn schon ein wenig, da der nun stetig wachsende Flugverkehr auf seinem Balkon den Nachbarn wohl nicht verborgen bleiben würde, die rechts und links und über und unter ihm in dem großen Reihenhaus wohnten. Alle Balkone zeigten ja schließlich in die gleiche – südliche – Richtung. Mit diesem und ähnlichen Gedanken trat er am nächsten Morgen auf den Balkon, betrachtete die beiden Tauben, die wiederum ihn betrachteten. Vor ihnen waren bereits einige Zweige zu einem kleinen Nest zusammengeschlungen. Vorsichtig näherte er sich ihnen, vorsichtig wichen sie zurück, um sich dann in einem wilden Flattern auf den nächstgelegenen Dachfirst zu flüchten. Von dort aus beobachteten sie ihn argwöhnisch, während er mit einem schlechten Gewissen die Zweige vom Boden auflas. So viel Mühe hatten sie sich gegeben, es war erstaunlich, wie gut die Äste bereits zusammenhielten und sie hatten das alles nur mit ihren kleinen Schnäbeln gemacht. Er trug die Zweige in die Wohnung und warf sie in den Mülleimer, spürte kurz, dass das irgendwie ein trauriger Moment und zugleich auch eine traurige Metapher war, dann dachte er an etwas anderes und fuhr zur Arbeit.

Am nächsten Morgen war es wieder das Gleiche. Wieder waren dort kleine Äste, wieder wichen die Tauben zurück, flohen auf den Dachfirst, wieder trug er die Äste in die Wohnung, wieder warf er sie in den Müll und in dieser Wiederholung wurde der Moment sogar noch ein wenig trauriger. Selbst auf dem Weg zur Arbeit musste er noch darüber nachdenken, ob es da nicht doch irgendwie die Möglichkeit einer Koexistenz gäbe, eine temporäre Allianz, doch diesen Gedanken verwarf er bereits am nächsten Morgen wieder, als ihm auffiel wie schmutzig sein Balkon inzwischen war. Es war nicht nur so, dass dort wieder ein halbfertiges Nest lag, nun fielen ihm auch die Federn und insbesondere der Kot der Tauben auf. Alles war bereits voll mit diesen hässlichen weißen Flecken.

„Tauben übertragen eine ganze Menge an Krankheiten“ hatte ein Kollege auf der Arbeit gesagt und „man nennt sie auch die Ratten der Lüfte.“ Vorsichtig blickte er über die Brüstung auf den Wintergarten der Nachbarin herunter, der ebenfalls in dem gleichen Muster gefleckt war. Bislang hatten sie wenig miteinander gesprochen, aber allein schon wenn er sah, mit welch energischen Strichen sie das Laub auf der Terrasse zusammenkehrte, hatte er irgendwie Angst vor einer Konfrontation. Er machte einen zornigen Schritt auf die Tauben zu, um ihnen trotz aller Sprachbarrieren zu signalisieren, dass sie unerwünscht und dass er nun ein Feind war, doch sie zögerten, betrachteten ihn nur aufmerksam aber erstaunlich ruhig, er ging einen zweiten Schritt auf sie zu und endlich flatterten sie wieder auf den Dachfirst. Nachdenklich blickte er zu ihnen hinüber und dann noch einmal hinunter auf den Wintergarten. Da dieser ein schwarzes Schrägdach hatte und auch ansonsten sehr gepflegt war, fiel der Taubenkot besonders auf. Das wird Ärger geben, dachte er sich, als er erneut die kleinen Zweige auflas und in die Küche zum Mülleimer trug, doch der Gedanke an die Tauben verfolgte ihn bis auf die Arbeit.



„Sie haben schon wieder versucht ein Nest zu bauen“, sagte er im Umkleideraum zu dem Kollegen, der ein Stück weiter oben am Fließband saß und mit dem er in der Pause manchmal gemeinsam eine Zigarette rauchte. „Du musst sie vertreiben“, antwortete dieser. „Wenn du nicht schnell genug etwas dagegen tust, wirst du die nie wieder los.“

Gemeinsam schritten sie durch die Halle und wie immer brauchte er erst einige Momente, um sich an den Geruch zu gewöhnen. Es roch nach gekochtem Hähnchen und nach Blut.

„Man braucht hier einen langen Atem“, hatte der Vorarbeiter gesagt, als er ihn das erste Mal durch diese Halle geführt hatte. „Die meisten machen das ja nicht lange und gerade auch bei der Position, an der wir dich einsetzen wollen, gibt es bislang eine hohe Fluktuation.“

Er verstand das gar nicht, da die Arbeit sehr einfach und dabei noch überaus gut bezahlt war. Man musste nur gut beobachten können, die Handgriffe lernte der Körper ganz von allein. Und das meiste machte ohnehin die Maschine.

Er erreichte seinen Platz und nickte dem Kollegen zu, dessen Schicht nun endete.

„Was Besonderes?“, fragte er.

„Nix Besonderes“, antwortet der Andere.

Dann tauschten sie die Plätze und seine Schicht begann.

*

Als er am frühen Abend nachhause kam, lag ein Umschlag auf seiner Fußmatte. „Herr R.“, stand dort in leicht verschnörkelten Buchstaben.

Er hob den Brief auf und schloss seine Wohnungstür auf.

Erst im Wohnzimmer öffnete er ihn.

„Lieber Herr R.“, stand dort, „bitte kümmern Sie sich um die Tauben auf Ihrem Balkon. Ich wäre froh, wenn wir dies ohne die Hausverwaltung klären könnten.“

Unterzeichnet hatte die Nachbarin, welcher der Wintergarten gehörte. Er legte den Brief auf den Tisch und war für einen kurzen Moment wütend. Was konnte er denn dafür und überhaupt: Wintergärten waren ihm von jeher unsympathisch gewesen, doch Herr R. war ein sehr friedlicher Mensch und gerade auch weil er den Diskursen seiner Kindheit entsprechend gut erzogen worden war, dachte er in solchen Situationen immer dass der Klügere nachgibt oder dass man nichts für die Fehler der Anderen kann, aber umso mehr für die eigenen verantwortlich ist.

Er öffnete auf die Balkontür und betrachtete die Tauben, die dort neben einem unfertigen Nest saßen und gurrten. „Das geht so nicht“, sagte er zu den Tauben, „ihr müsst euch einen anderen Platz suchen“, doch die Tauben verstanden ihn nicht, blickten ihn nur aufmerksam an und wichen auch nicht zurück, als er auf sie zuging. Erst als er die Hand nach ihnen ausstreckte und sie fast berührte, erhoben sie sich protestierend und flatterten hinüber auf den Dachfirst. „Sie haben gar keine Angst vor mir“, dachte er und bewunderte sie ein wenig für diese Frechheit.

„Der Klügere darf halt nicht immer nachgeben“, dachte er, „sonst wird er ja immer gegen die Dümmeren verlieren.“

„Herr R.“, rief da eine Stimme und als er über die Brüstung nach unten blickte, sah er die Besitzerin des Wintergartens, die neben demselben stand und zu ihm nach oben schaute. In der Hand hielt sie einen Lappen und einen kleinen Eimer.

„Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben“, rief sie, „wegen der Tauben.“

„Ja“, rief er zurück und weil das Wort so verloren zwischen ihnen hing, ergänzte er:

„Ich kümmere mich darum.“

„Machen Sie das“, rief die Nachbarin zurück, „wenn Sie nicht schnell genug etwas tun, werden Sie die nie wieder los“ und obwohl dies eigentlich ein gutes Ende für das Gespräch gewesen wäre, ergänzte sie noch: „Und das würden wir nicht akzeptieren.“

„Ich kümmere mich darum“, rief er noch einmal, hob das halbfertige Nest vom Boden auf und hielt es wie zum Beweis in die Luft. „Ich tue ja, was ich kann, aber ich habe mir das ja nicht ausgesucht.“

„Sie sind halt so selten auf dem Balkon“, rief die Nachbarin, „das ist mir ohnehin schon aufgefallen.“

Je länger dieses Gespräch dauerte, desto unangenehmer war es ihm. Da er im zweiten Stock wohnte, musste man schon die Stimme heben, um da unten verstanden zu werden und er wollte ja nicht noch mehr Menschen auf die Tauben aufmerksam machen.

„Sie brauchen ein Netz“, rief die Nachbarin.

„Ich kümmere mich darum“, antwortete er und „danke“, blickte noch einmal vorwurfsvoll zu den Tauben und ging dann zurück in sein Wohnzimmer.

Um sich zu zerstreuen schaltete er den Fernseher ein, betrachtete zunächst einige Minuten lang einen bunt gekleideten Moderator, der seinen Gästen Quizfragen stellte, dann sah er eine Weile lang eine Reportage über Menschen, die im Mittelmeer ertrunken waren. „Würde man die Einreisebestimmungen der EU ändern“, sagte ein wütender Anwalt zynisch, „dann würden wohl nur noch betrunkene Urlauber im Mittelmeer ertrinken.“

Dann schaltete er um zu einer Serie, die er eigentlich gar nicht mochte. Nur die Protagonistin, die fand er irgendwie attraktiv.

Am nächsten Morgen konnte er keine neuen Zweige finden, doch er blieb skeptisch, da er bislang in seinem Leben die Erfahrung gemacht hatte, dass die Dinge und vor allem die Probleme sich nicht so einfach von selbst auflösen. Dennoch überkam ihn auf dem Weg zur Arbeit ein unerwartetes Hochgefühl, befreit fühlte er sich und auch wenn ein Teil in ihm immer wieder flüsterte, dass man sich bloß nicht zu früh freuen sollte, weil man sonst ja bitter enttäuscht werden kann, klang die Musik im Radio an diesem Tag besser und der Fahrtwind erinnerte ihn daran, wie er als Kind mit dem Fahrrad gefahren war.

„Was bedeutet Freiheit für dich?“, fragte er seinen Kollegen in der Umkleide.

„Na die Füße hochlegen“, sagte dieser, „nichts tun, das ist Freiheit. Wenn man das Haus nicht verlassen muss.“

Er dachte über die Antwort nach, die der Andere so einfach gefunden hatte.

„Wie sieht's denn mit deinen Tauben aus?“, fragte der Kollege.

„Ich glaube, sie sind weg“, antwortete er, „ich hab sie zumindest heute noch nicht gesehen. Fertig?“ Er schritt in die Halle, roch das Hühnchen, roch das Blut, dann löste er den Kollegen am Band ab, setzte sich und nahm das kleine scharfe Messer in die Hand.

Er brauchte wie immer erst einige Momente, um hineinzukommen und sich an alles um ihn herum zu gewöhnen, das Motorengeräusch des Bandes, das Gackern und das Zischen des Wasserbadbetäubers, man musste sich einige Momente hineinhören, um den Rhythmus zu verstehen, in dem hier alles mit allem zusammenhing. Erst wenn man den Rhythmus fand, wenn das einzelne Gackern in seiner endlosen Wiederholung zum bloßen Ton zusammengeschmolzen war, verschwanden die Geräusche einfach. „Es ist genau so wie mit dem Geruch“, dachte er, denn auch der verschwand, wenn man sich eine Weile in ihm befand.

Er griff nach vorne und schnitt einem Huhn mit sicherem Schnitt durch den Hals, Blut sprudelte über seine weißen Handschuhe, sanft ließ er den Kopf wieder los und während dieser friedlich pendelnd davonfuhr, war er mit seinen Augen schon beim nächsten Huhn. Eigentlich arbeitete die Maschine perfekt, nahezu nie stand das Band still, doch weil die Hühner, die manchmal wild strampelnd an den Füßen hängend um die Ecke bogen, eben nicht perfekt waren, brauchte es dann doch noch den Menschen, um die Maschine an speziellen Stellen zu überwachen. Er selbst saß ein Stück weit neben dem Wasserbadbetäuber und überprüfte bei jedem Huhn, ob die rotierende Klinge an der richtigen Stelle die Adern aufgetrennt hatte. Immer wieder gab es einzelne Hühner, die es schafften, ihren Kopf so weit zu heben, dass sie dem Elektroschock im Wasser entgingen oder nicht vollständig gelähmt waren. Meistens waren sie dann jedoch so erschöpft, dass die kleine rotierende Klinge sie dann doch an der richtigen Stelle traf. Nur die allerwenigsten entgingen dieser zweiten Gefahr und hoben ihren kleinen Kopf auch noch über die Klinge hinweg, erhielten vielleicht nur einen Schnitt ins Gesicht oder in den Schnabel. Erst hier kam Herr R. ins Spiel, um diesen vereinzelten Überlebenden dann ganz den Garaus zu machen, damit sie verbluteten, bevor sie in der nächsten Abteilung mit kochendem Wasser abgebrüht wurden. Dies gebot der Tierschutz und da Herr R. für einen sogenannten Vorzeigebetrieb arbeitete, fürchtete man sich hier besonders vor den gelegentlich stattfindenden Kontrollen.

Die Arbeit verging wie im Flug und als er am Abend zurückfuhr, hörte er im Radio Jazz, obwohl er Jazz eigentlich gar nicht mochte. Zuhause trat er auf den Balkon und noch immer waren keine neuen Zweige dort, auch von den Tauben war weit und breit nichts zu sehen. „Vielleicht wird ja doch alles gut“, dachte er und setzte sich vor den Fernseher. „Die Füße hochlegen“, dachte er, „kann das Freiheit sein, nur weil es sich gut anfühlt? Und ist das genug?“

Er schaute einen Liebesfilm, obwohl er Liebesfilme eigentlich gar nicht mochte. Gerade das Happy End, wenn Protagonist und Protagonistin nach all den Wirrungen und Irrungen der zumeist oberflächlichen Handlung zueinander fanden, machte ihn immer ein wenig traurig, weil seine eigenen Liebesbeziehungen nie ein Happy End gehabt hatten, weil es ja auch im Leben kein Happy End gab, weil es ja immer weiterging, weil es niemals anhielt. Er schaltete um und betrachtete die ausgemergelten Körper von afrikanischen Kindern, sah einige Minuten lang eine Reportage über Dürren und Hungersnöte, sah einen Hund, der so dünn war, dass man das Herz durch die Haut schlagen sehen konnte, dann schaltete er zurück zu dem Liebesfilm.

„Ich mag an dir, dass du so großzügig bist“, sagte die Protagonistin, „du weißt schon, wie man eine Frau glücklich macht.“

Wieder musste er umschalten und landete schließlich bei einer Reportage über Wale, die ihn irgendwie beruhigte. „So tief unten im Meer“, dachte er, „muss es sehr still und friedlich sein.“



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