Der fliegende Körper

Kurzgeschichte zum Thema Begegnung

von  WolframS

Ich sitze in der U-Bahn und bin auf dem Heimweg. Ich höre das Album „Closing Time“ von Tom Waits. Sein Debütalbum. Bei den Folklastigen Songs fange ich an zu träumen, von fast menschenleeren Straßen irgendeiner großen Industriestadt, die ich entlang schlendere. Dort ist es kalt, heruntergekommen und schmuddelig. Irgendwas an der Szenerie ist mir vertraut, aber ich kann nicht sagen, was.

Ich laufe die Straße entlang. In einer windstillen Hausecke liegt ein Obdachloser im Schlafsack und in Wolldecken eingehüllt auf mehreren Schichten Pappe. Er riecht nach Hochprozentigem. Ich mache einen weiten Bogen um seinen Schlafplatz und den Pappbecher, in dem ein paar Münzen liegen. Ein paar Meter weiter habe ich ihn schon wieder vergessen. Mich beschäftigt jetzt ein vages Hungergefühl. Vielleicht sollte ich einen Happen essen.

Ich gehe weiter, statt etwas zu Essen hole ich mir in einem Coffeeshop einer dieser überall vertretenen Coffeeshop-Ketten nur einen kleinen Cappuccino zum Mitnehmen -- die Preise sind einfach nur Wucher. Auf meinem Weg tauchen jetzt ein paar Cafés und Kneipen auf, in denen die Menschen meist zu zweit oder in kleinen Gruppen sitzen und Schutz vor der Kälte draußen suchen. Ich biege an einer Straßenecke ab und nehme im Gehen einen Schluck von dem Cappuccino. Plötzlich rammt etwas Hartes meine Beine und der Deckel des Kaffeebechers kracht gegen meine Nase. Der Becher fliegt mir aus der Hand. Fremde Hände fliegen mir entgegen und klammern sich an mir fest. Den Händen folgen Arme und ein Oberkörper in einer blauen Jacke. Der fliegende Körper prallt mit voller Wucht gegen mich und reißt mich um. Ich stoße, begleitet von noch einer anderen schrillen Stimme und lautem metallischem Scheppern, ein quietschendes „Aaah“ aus und falle nach hinten auf den Boden. Der Körper und ein Fahrrad fallen auf mich drauf. Für einen Moment dreht sich alles. Ich stelle benommen fest, dass Tom Waits bei dem Sturz aus meinen Ohren gerissen worden ist. Der Kopf unter einer bunten Wollmütze und umrahmt von dunklen Haaren, schreit nicht mehr, aber flucht jetzt lauthals ziemlich nah an meinem linken Ohr. Ich kann den warmen Atem an meinem Hals spüren. Der Körper liegt quer auf meiner Brust. Ich kann mich nicht bewegen, das Gewicht auf mir ist zu schwer und mein Hintern und die Beine tun auch höllisch weh. Laut ächzend und fortwährend fluchend wälzt sich der Körper in der blauen Jacke so gut es geht von mir herunter und wir kriechen unter dem himmelblauen Fahrrad hervor, das auf drei von unseren vier Beinen liegt. Als das geschafft ist, setzen wir uns auf und ich schaue kurz in grüne Augen. Die dunklen Haare unter der bunten Wollmütze gehören zu einem blassen weiblichen Gesicht mit feinen Zügen. „Entschuldige!“ sagt sie zum gefühlt zehnten Mal. „Ich heiße übrigens Jenni. Ich hab´ dich wirklich nicht um die Ecke kommen sehen!“ Die grünen Augen, die mich an vom Morgentau glitzernde Wiesen erinnern, mustern mich eingehend von oben bis unten und sie fragt. „Bist du verletzt? Wie heißt du eigentlich?“. Ich antworte halblaut „Ich heiße Artur.“ Und obwohl ich mir da eigentlich nicht ganz sicher bin -- ich habe immer noch große Schmerzen in den Beinen und fühle mich ein bisschen wackelig -- „Nein, nein, mir ist nichts passiert,“ beteuere ich, jetzt mit möglichst fester Stimme. „Okay, das ist gut. Es tut mir wirklich wirklich leid! Wow, das war ganz schön heftig. Mir tut alles weh!“ Sagt Jenni. Ich hebe meine Ohrhörer vom Boden auf, Tom Waits ist wie aus weiter Ferne zu hören. Ich fummele am Kabel herum, das sich verheddert hat und schaue etwas traurig auf den eingedellten Pappbecher und die Kaffeelache am Boden. „Oh scheiße … Tschuldigung, dein Kaffee ist jetzt auch futsch. Boah, die sind aber auch verdammt teuer geworden. Ich finde, das ist der reinste Wucher! Deswegen gehe ich nur noch ganz selten in diese Coffeeshops“ Jenni redet immer schneller und scheint ins Plappern zu geraten. Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Das mit dem Kaffee ist nicht so schlimm, immerhin ist das da kein Blut!“ sage ich und deute mit einer Kopfbewegung zum Kaffee am Boden. Zum ersten Mal sehe ich ein Lächeln auf Jennis Lippen. Es kommen weiße Zähne und feine Fältchen seitlich um die grünen Augen zum Vorschein. „Stimmt!“ antwortet sie und nickt zustimmend. Ich denke schon wieder an grüne Wiesen und Tau … Plötzlich fährt Jenni zusammen „Fuck! Fuck! Ich muss zur Arbeit! -- Wichtige Besprechung, blöder Chef.“ fügt sie noch hinzu. Sie inspiziert eingehend ihr altes himmelblaues Herrenrad, auf dessen Rahmen PEGASUS steht, offenbar kann sie aber keine Schäden entdecken, denn sie nickt zufrieden und meint, „der alte Drahtesel ist nicht kaputt zu kriegen.“ Jenni steigt auf ihr Fahrrad, dreht den Kopf noch einmal zu mir, sagt „Es tut mir leid Artur. Mach´s gut!“ tritt ins Pedal und fährt los.

Ich sehe ihr nach, wie sie davonfährt, bis sie zwischen den parkenden und fahrenden Autos, Fußgängern und anderen Radfahrern verschwunden ist. Ich frage mich noch, was ihr leidtut, dass sie mich angefahren hat oder dass sie weitermuss. Ich schaue auf die Ohrhörer in meinen Händen und stecke sie wieder in meine Ohren. Tom Waits singt gerade den letzten und gleichnamigen Song des Albums „Closing Time“.

Irgendjemand hat mich am Oberarm gepackt und rüttelt daran. Ich schrecke auf. Der U-Bahnwagen ist ziemlich voll. Vor mir steht ein breitschultriger Hüne mit dichtem Vollbart in der Uniform der DB-Sicherheit. Sein Mund bewegt sich und seine barsche Stimme dringt zu mir durch „Hallo, hallo, aufwachen! Fahrscheinkontrolle!“

 

ENDE



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Kommentare zu diesem Text


 willemswelt (25.11.23, 19:35)
gern gelesen-so bleibt eben manches  nur Traum-einen Gruß,Willem
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