Das Selbstgespräch

Szene

von  uwesch

Heute geht sie bei ihrem Besuch in Hamburg, wo sie viele Jahre gelebt hat, mit ihrem alten Schulfreund Jochen in den Wallanlagen spazieren. Sie setzt sich mit ihm auf eine Bank mit Blick auf die hohe Mauer des Untersuchungsgefängnisses und dem dahinterliegenden Gebäude mit den vergitterten Fenstern.

Sie schweigen. Es ist beinahe unheimlich, so als wäre er nicht da. Es ist Abwesenheit und sie könnten genauso gut nicht nebeneinander sitzen. Früher hatte sie das beleidigt. Sie fand es als eine Art von Verachtung, so als würde sie nicht existieren. Obwohl eigentlich er es war, der nicht existierte.

Sie erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit im Schulchor. Er hatte immer so schrill gesungen, dass sie es als eine Wut empfand, die zwar gegen niemand gerichtet war, aber mit irgendeiner Trauer zusammenhing. Diese ließ sich jedoch nicht benennen. Das war zumindest ihr Eindruck.

Nach dem Abitur hatte er sie damals gefragt, ob sie ihn heiraten würde. Er wollte Architekt werden.

Sie fragt sich jetzt, ob er sie je geliebt hat. Er hatte ihre Beziehung einmal mit einem Haus verglichen, an dem sie zusammen bauen könnten. Etwas, was nicht nur in dem einen oder anderen ist, sondern was aus einem gemeinsamen Willen entsteht. In dem Haus gebe es viele Räume, hatte er gesagt, ein Wohn-, ein Schlaf-, ein Kinderzimmer und einen Speicher für gemeinsame Erinnerungen.

Sie hatte nur gefragt:

„Und was ist mit dem Keller?“

Er antwortete:

„Da stapeln wir alles, was uns stört.“

Sie fand ein eigenes Haus damals viel zu bürgerlich und hatte Angst vor seiner Wut und davor, sich so früh zu binden.

 

Vor zwei Jahren war Jochen gestorben, wie sie gestern von ihrem Bruder erfuhr.



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