spüren,riechen, hören

Text zum Thema Sehen/ nicht sehen

von  redangel

mit dem schwarzen tuch wurden dir die augen verbunden. du hast es zugelassen, alles zugelassen, auch als dir die strümpfe und schuhe ausgezogen wurden. du hast dich nicht dagegen gewehrt. barfuß und blind stehst du nun da, etwas verloren mitten im wald. bevor das spiel richtig losgehen kann, drehen sie dich. kennst du es denn nicht mehr von früher das kinderspiel? dieses atemberaubende gefühl, solange um deine eigene achse gedreht zu werden, bis du nicht mehr weißt, wo du stehst. wo du hergekommen bist, wohin du nun gehen sollst? es wäre eigentlich nicht
zwingend nötig, aber sie haben dir auch noch die orientierung genommen. weißt du, sie wollen nicht so leicht gefangen werden, die anderen. du sollst den fänger spielen, deswegen locken sie dich laufend. du sollst nach ihnen greifen, wenn sie nahe an dich herankommen. manche rufen dich um dich in die falsche richtung zu leiten mit verstellter stimme. mal leise, mal lauter, dann ändern sie schnell wieder ihre position. manche berühren dich, kurz, bevor sie sich hinter dem nächsten baum verstecken. manche stehen einfach nur still da und machen sich nicht bemerkbar. sie warten ab
was geschieht. blinde kuh, du spürst den waldboden unter deinen füssen. die tannennadeln auf denen du stehst federn.du hast angst sie stechen dich. beim nächsten schritt, den du machst, tun es dann auch. die hervorstehenden sind es, und du zuckst zusammen. vorsichtiger setzt du nun einen fuß vor den anderen. du fühlst den stein erst in dem moment,
als du darauf trittst. es tut ein bißchen weh, denn der stein ist spitz. deine fußsohlen sind das barfußlaufen nicht mehr
gewohnt. du hast deine hornhaut verloren. aber du lebst, spürst du das? du erlebst gerade ein abenteuer, weißt du. der wald steckt voller unheimlicher dinge, geräusche und gefahren. er ist nie still, er riecht gut. der wald riecht nach wald, aromatisch nach wald ein wenig erdig nach vermoderten blättern. du bist erwachsen, du kennst diesen geruch nicht mehr.
es ist ein ganz spezieller geruch, der sich verwandelt, sobald du ein stück weiter gehst, deine position änderst.
du mußtest erst blind gemacht werden um so viel zu spüren, zu riechen und zu hören. ein sonnenstrahl bricht durch die äste und streift deinen linken arm. es wird warm an der stelle, es ist wie streicheln, spürst du? ein zweig streift dein gesicht, wie ein leichter schlag. es trifft dich. du denkst an feine spinnweben als du weitergehst und diejenigen, die sie gebaut haben. ein kitzeln im gesicht, aber nein es war nur eine mücke. das hörst du am summen. dann sticht sie dich am hals, dort in
der kleinen kuhle mit der zarten haut. als du den schmerz spürst und nach ihr schlägst, ist sie längst schon weg, die mücke. den anderen wird langsam langweilig, denn du bist eine viel zu schlechte fängerin, blinde kuh. sie stoßen dich heftiger um dich
etwas mehr anzustacheln. du bemerkst das rauschen der blätter im wind, du hörst vogelstimmen, viele unterschiedliche vogelstimmen
und dazwischen ein paar laute warnrufe des eichelhähers. er ist der wächter im wald. dazwischen immer wieder die geräusche, die menschen beim laufen machen. du spürst den boden fibrieren wenn sie sich dir nähern. du beginnst ein paar schnellere schritte auf sie zu zumachen. zuerst treffen deine füße auf moos. das fühlt sich schön weich und etwas feucht an.du läufst schneller, sicherer. da, diese große wurzel, bringt dich zum stolpern. du stößt dir die zehe und deine stirn an einen baum. hörst das spöttische schadenfrohe lachen der anderen. raue rinde kratzt an deiner haut, aber du hältst dich fest an diesem baum. er läuft dir wenigstens nicht weg. du hast dir einen
baum gefangen, blinde kuh. du versuchst zu erraten, welchen. aber du kennst dich nicht so gut aus mit baumsorten. du willst in diesem blindekuhspiel ab sofort nicht mehr mitmachen, keine fängerin mehr sein. rufst es den anderen laut zu: sie spielt nicht mehr mit, die blinde. ausgespielt, du hast ausgespielt und reißt dir das tuch eigenhandig von den augen. dabei lächelst du, denn du hast dir gerade ein neues spiel erfunden. du würdest es gerne mit irgendjemand besonderem spielen. einem, dem du vertrauen schenken kannst und der auch dir vertraut.
sich blindmachen ließe um hand in hand mit dir barfuß den wald zu erleben. einem abenteuerer der seine sinne neu erfahren will. wie schön es ist das
spüren, riechen ,hören.
so sinnlich.

(c) redangel

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram