KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 12. Februar 2013, 00:28
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Grand Canyon Letter

180. Kolumne


Bright Angel Creek, 16.September 1970

Der Entschluß, drei Tage länger im Grand Canyon zu bleiben, fiel mir nicht schwer. Der Grand Canyon übertrifft alles, was ich mir vorstellen konnte, er ist das Non plus ultra meiner Amerika-Reise. Schauer der Erregung liefen mir den Rücken herunter, als ich die ersten Meter des Bright Angel Trails hinter mir hatte. Ich konnte erst gar nicht glauben, was ich sah. Und was ich sah, war zugleich schön, groß, mächtig – bi-zarr, trostlos, wüst. Ich schrieb in englischen Versen ein Gedicht über das was ich hier sah. Diese Schluchten-Landschaft begriff ich als ein un-geheuerliches und zugleich schönes Bild der Gegensätzlichkeiten und der politischen Zerrissenheit der Vereinigten Staaten von Amerika.

Grand Canyon

when you see the red rocks
fingers and torsos broken living stones
growing up toward a blue empty firmament -
can you see the whole
written history of mankind?

when your eyes
wandering from rim to rim, from blue to yellow
from a smashed tree dying in an exhausting
air of brutal colors to a deep hole of illusions
when they become cameras which shoot
a picture for your scheme of life -
can you feel your unwritten history?

when your cries in a red yellow
darkness of rock loneliness
come back as echos of a living theater
made by your own bright thoughts -
can you hear the sounds of freedom?

there is no answer but the canyon itself
there is only an answer you give to yourself
there is no feeling outside the canyon
but your small and unfinished ideas
of a bad colored camera picture

yes I saw the third war soldiers
the grand old majority riding mules
climbing down and up in a
demolished nature of shadows

there will be no change in a world
that never knew a constructive hand
there are changes in times
that mean destruction for a better world
with red and bright fingers
pointing to the sky

a raven sitting on a yellow rock hand
is waiting for a history
that could become that could develop
a brave new world
a history that didn’t exist but happens
in this small moment

there is nothing to show
nothing to remember
but darkness or the bright light
of a past future

Die Fotos lügen, keine Kamera kann die Wahrheit des Canyon erfassen. Die wahren Bilder aber werde ich immer unvergeßlich in meinem Ge-hirn aufblättern. Wer über den Grand Canyon reden will, muß bis zum Colorado River hinab gewandert sein, andauernd von der Vorstellung getäuscht, hinter der nächsten Felsecke tauche der Colorado endlich auf. Und er muß die sieben Meilen hinauf gekeucht haben, geschwitzt, ge-durstet, geflucht. Fata Morgana: die nächste Felszinne ist die Spitze. Du glaubst es geschafft zu haben, du betrittst Indian Gardens: aber vor dir ein neuer Canyon. Auf dem engen Pfad in zahllosen Serpentinen begeg-nen sich die Menschen mit Hi!, Halloh! oder Howdoyee! - Ich begegne einem 81 Jahre alten Mann, er ist schon den ganzen Tag unterwegs. –

Am Bright Angel Creek, in der untersten Schlucht - verfluchte Moskitos! -, komme ich zum Nachdenken und Schreiben über das, was ich in den zwei kurzen Wochen meines Trips gesehen und erlebt habe.

Ich startete in New York City: Ich schleppte meinen Rucksack zu einem der Locker des Port Authority Bus Terminals und ging den Broadway hinunter. Leicht, sich vorzustellen, wie unsicher ich mich nun fühlte, ja regelrechte Angst davor hatte, angesprochen zu werden - zum ersten Mal würde ich gezwungen sein, englisch zu sprechen ohne jede Hilfe. Allein in einer glitzernden, brennenden Steinwüste; in der Dunkelheit leuchtete links und rechts von mir Wall Street Lametta. Typen von Men-schen, wie ich sie erst jetzt, wo ich allein war, richtig beobachten und bemerken konnte.

In Amerika scheint es nur zwei stabile Gesellschaftsklassen zu geben: die Reichen und die Armen. Eine dritte Klasse hat gerade soviel Geld, daß sie ihre laufenden Schulden tilgen kann, ohne dabei zu verhungern. – Ich wurde sehr schnell angesprochen: Do you have change? Do vou have change?, Two pennies only - please!, Do you have a cigarette?, Would you pay a meal for me? – Das System dieses Landes ist das Gesetz des Dschungels.

Vieles ist schrecklich anonym, trotz aller äußerlichen Herzlichkeit. Den Europäer trifft zunächst einmal der Schlag, weil er mit der anscheinend angeborenen Freundlichkeit der liebenswürdigen Amerikaner nicht Schritt halten kann. Im Herzen regiert der Dollar den Umgang mit Men-schen - das gilt jedenfalls für den öffentlichen Bereich. Oder ist West-deutschland als kolonialer Außenposten Amerikas nur eine Variation der gleichen Probleme?
Die Menschenwürde wird oft wie auf einer Auktion für Dollars ver-kloppt. Wer die Dollars nicht hat, kann sich keine Menschenwürde kau-fen. Manchmal verteilt der Staat ein bißchen Menschenwürde, bleibt aber Eigentümer bis zur vollständigen Bezahlung, für den Preis zum Beispiel, das Recht auf Menschenwürde auch in Asien zu verteidigen.
Panem et circenses. Nur soviel panem, daß die Armen Schuldner ihrer eigenen Menschenwürde bleiben. Ich habe mit solchen armen Menschen am Union Square in San Francisco, in New York City, Chicago und in den Greyhound-Bussen gesprochen. Sie finden keine Arbeit; und wenn sie Geld vom Staat erhalten, dürfen sie vielfach nicht arbeiten, sonst kriegen sie kein Geld mehr - Spirale der Unvernunft! Aber weder staatli-ches Geld noch mickriges Einkommen reichen in vielen Fällen hin, ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten.
So viele Möglichkeiten, Bodenschätze, Intelligenz und guter Wille - und soviel Ungerechtigkeit, gottgesegnete Ungerechtigkeit. Es ist genug für alle da - aber dieser Satz klingt hier schon kommunistisch.

In San Francisco kam ein Mädchen auf mich zu: „Do you have change?“ - „Sorry.“ - „Willst du mit mir schlafen? Fünf Dollar.“
Zeitgespenster kommen und gehen. Heute verteilen wir - BIG! SALE - die freie Liebe, morgen gehen wir mit Schleier. Müssen wir bei dem im-perialistisch funktionierenden Dollarsystem bleiben, oder sollten wir uns den Luxus leisten, ein paar Gehirnzellen in Gang zu setzen? - Wall Street sorgt allerorten für das Opium, damit die Zellen nicht zu arbeiten brau-chen.
DISCOVER AMERICA steht auf jedem Greyhound-Bus. Accepted. Greyhound ist für mich eine großartige Sache, relativ bequem, schnell, laufend Anschluß. - Da wird viel Geld gemacht. Und nicht nur mit den Bussen. Ein Post Coach Inn hier, eine Cafeteris da. Ja, die Demokratie ist teuer. So teuer, daß nur eine Minderheit sie genießen kann. THANK YOU FOR GOING GREYHOUND tönt der Lautsprecher.

Der Bus fuhr nach Buffalo. Nachts. Inzwischen habe ich den Bogen raus, wie man auf zwei Sitzen liegend gut schlafen kann. - Ich ging auf die kanadische Seite, sah die Niagara Falls. - Wieder in Buffalo, lernte ich Neyris kennen, eine wallisische Studentin. Zum ersten Mal wurde mein Englisch auf eine ernsthaftere Probe gestellt, als nur zu sagen „I want to get a ticket to Buffalo.“

Abends nach Chicago – eine akzeptable Skyscraper-Architektur, und gute (d. h. teure) Geschäfte, Blumen in den Straßen, kaum pollution wie in Manhattan. Strand am Lake Michigan, direkt vor der skyline. Ich ging schwimmen und begann, Huxleys BRAVE NEW WORLD zu lesen, ein Buch, das mich in jeder Hinsicht gefesselt hat.

36 Stunden Busfahrt nach Livingston, Montana. Dort im Norden waren wenige Touristen, aber dafür wimmelt es hier oder in San Francisco nur so davon. In Livingston fuhr kein Bus in den Yellowstone Park. Nur eine Sightseeing-Tour für 80 Dollar war zu haben. Ich schloß mich einer Gruppe an: Zwei Kanadierinnen (Susanne und Anne), zwei Ungarn (Jo-seph und Julia), ein Japaner (Yugro) und ein Grieche (Pandos). Da der Grieche und die Ungarn in Westdeutschland studierten, konnten sie sich in deutscher Sprache verständlich machen. Der Übersetzer in beide Rich-tungen war ich. Ich lernte bald Umgangsenglisch, relativ viel, und jetzt bin ich in einem Stadium, wo ich mehr Vokabeln wissen will und mehr Grammatik, um bessere, schwierigere Sätze bilden zu können, um mehr zu verstehen und differenzierter zu reden. - Unsere Gruppe mietete ein Auto, und zwei Tage lang sahen wir den wirklich bewundernswerten Park und übernachteten im „Old Faithful Inn“ Endlich eine Nacht im Bett. So ein Trip mit wenig Geld ist anstrengend, weil in sehr kurzer Zeit sehr viele Eindrücke aufeinander folgen, weil ich in einem fremden Land bin, nie gut schlafen kann und nichts Rechtes zu essen habe. Die Ein-drücke in Somerset kommen ja noch obendrauf. Und immer wieder neue Menschen. Ich sehne mich nach Ruhe, nach Mozart, nach Arbeit, nach irgendeiner Aufgabe - und nach -------------- SSSCCCHHHLLLAAAFFF!

Salt Lake City: Temple Square. Great Salt Lake, in dem ich schwamm ohne zu schwimmen! - Ich traf in SLC zwei Schweizer, verabschiedete mich von den Ungarn und den Kanadierinnen. Ich könnte Stories erzäh-len von jedem, den ich traf. Neyris reiste von Bett zu Bett und finanzierte so ihre Fahrt.

Ich traf ausnahmslos Leute, denen Deutschland sympathisch ist - mei-stens Jugendliche, welche die alten Klischees beiseite geschoben hatten, teils selbst in Deutschland waren. Immer wieder wurde ich gefragt : Wie ist die SPD? Wer ist Willy Brandt wirklich? Wie sind eure sozialen und politischen Verhältnisse? Wie studierst du? - Obwohl ich viel an West-deutschlands Verhältnissen zu kritisieren habe und grundlegende Ver-änderungen für notwendig halte - ich kam mir hier vor, als sei ich Rei-sender aus einem sozialistischen Land. Ich wurde mit Fragen bombar-diert, hörte, wie man hier studiert, was man zahlt, wie man lebt.

Nevada Desert, San Francisco, Sausalito: Dollar-System. Marke „Souve-nir“ oder „Knips knips“. Viel moderne fashion, reiche Leute, Ferienhip-pies. Schöne Häuser. - San Francisco ist eine großartige Stadt - bis auf seine Armut. Cable Car. Chinatown (dort schlug ich mir den Bauch voll). Zwei andere Schweizer getroffen. In den Städten lernst du keine Men-schen kennen, auch in den größeren Bus Terminals bist du allein. Ich dachte mir, so schön S.F. ist, aber eine Übernachtung genügt. Und was für eine Übernachtung! Für 2.50 Dollar ins „Baldwin House“ – günstiger als YMCA. Ich öffne die Tür meines Zimmers. Alles dunkel, ich konnte erst nichts sehen, taste in die Gegend, wo eine Lampe hängen müßte, erwische einen Draht, dann eine Birne, die ich reinschrauben mußte. Die Funzel erhellte kaum den Raum. Ich sah mit obszönen Bildern und Sät-zen beschmierte Wände. Schmutz, wo man nur hinsah und hintrat - die Schuhe zog ich mir erst im Bett aus. Das Fenster: Die Scheiben braungelb vor Schmutz, zersprungen. Ich drücke das Fenster hoch und sehe auf den Innenhof. Auf einem Zwischendach lag meterhoch der Abfall und stank. Dunkel alles. Das Spülbecken eine Kloake. Der Wasserhahn brach-te es lediglich zum Tropfen. Ich wollte mich auf den Bettrand setzen, bemerkte, das Bett war ungemacht. Besudelte Wäsche, seit Wochen oder Monaten nicht ausgewechselt. Eine Kommode, leere Dosen, Asche, Pa-pier, Abfall überall. Ich zog die Wäsche vom Bett, nahm meine Decke und ruhte mich aus. Ich hatte die Katze im Sack gekauft. Ich hatte we-nigstens einen guten Schlaf, nachdem ich von Fisherman’s Wharf zu-rückkam.

Am nächsten Tag lief ich stundenlang durch die Stadt. Union Square: Dort war es fast so wie am Washington Square in NYC. Drei Berkeley-Studenten spielten Flötentrios von Bach und Quantz - sie verdienten gut in kurzer Zeit, spielten ausgezeichnet. In den Straßen eine Geigerin. Ein Musikwagen mit einer eigentümlichen Orgel - von Pferden gezogen - führ über die Straßenkreuzung. - Do you have change? - Ein Veteran an der Ecke, ohne Beine, verkaufte Bleistifte. Hippies. Reiche, vornehme Damen stolzierten vor den Geschäften. - Do you have a lunch for me? - Demonstrierende Inder schlugen auf kleine Trommeln und tanzten in gelben Kutten. BLACK POWER. Gedränge in den Straßen. Ein Soldat: Do you have change? - Sorry. - But, I defend our country. - Sorry. Ge-dränge. Rush hour. Excuse me ... excuse me ... excuse me ... excuse me ...

Ich werde angesprochen. Die Church of Scientology will mich testen, umsonst. Ich machte mit: 400 Fragen in Englisch waren zu beantworten mit YES, NO oder MAY BE. Danach war ich wie gerädert. Ein junger Mann kam am Schluß mit der Auswertung meines Tests zu mir, hier der result:

1. Ich weiß nicht, warum und wofür ich lebe
2. Ich bin nicht glücklich und mein Lebensgefühl
ist dementsprechend
3. Ich BEGINNE, Dinge zu tun
4. Ich führe Dinge aus
5. Ich BEENDE die Dinge nicht
6. Ich bin zu CRITICAL
7. Ich habe gute Kontaktfähigkeit

Natürlich sollte ich wegen Ziffer l, 2 und 6 Mitglied der Church of Scien-tology werden. Ich hielt den Test für ein abgekartetes Spiel, höchst ten-denziös, denn: Bei 1 schnitt ich deswegen ‚schlecht’ ab, weil ich offen zugab, nicht zu wissen, warum ich letzten Endes lebe (weiß das die Church of Scientology?), und entsprechend antwortete ich auf ähnliche, versteckte Fragen. Ob ich mir aber selber Bestimmungen meines Lebens gebe, wurde nicht gefragt. - Bei Ziffer 2 schnitt ich ‚schlecht’ ab, weil ich auf verschiedene Fragen antwortete, daß ich nicht mit den sozialen oder politischen Verhältnissen oder mit dem, was ich bisher in meinem Leben erreichte, zufrieden bin. Bei Ziffer 3 frage ich mich, woher sie ihr Urteil nehmen. Und bei Ziffer 6 tritt die Tendenz dieser „Church“ offen zu Tage. - Auf meine Gegenvorstellungen erhielt ich stets ein liebes Lä-cheln. Soll ich lächelnd zusehen, wie die Schwarzen diskriminiert wer-den, wie die Armen noch mehr verarmen, wie die Konservativen ihren heiligen Krieg in Asien führen? Vielleicht ist dies das Ziel.
SMILING AMERICA ...?

Auf der Busfahrt nach San Diego lernte ich einen Franzosen kennen, später auch einen Tschechen - so waren meine Busfahrten aufgrund der interessanten Gespräche, nie langweilig. - San Diego ist eine abstoßende, billige, ordinäre Großstadt. Puffs. Kneipen. Go-go-girls. Bank-Paläste. - Reiche Villen, arme, lumpige Holzhäuser, direkt nebeneinander. Ein Park, eine Wüste. Ein trauriger, schmutziger (Kriegs)hafen. Viele Mexi-kaner.

Ich versuchte über die Grenze nach Mexico zu kommen. Ich wollte nur Tijuana sehen, denn Mexico City war mit 24 Dollar in der Tasche zu teu-er. Der mexikanische Grenzbeamte, lässig in einer Holzbude sitzend, musterte mich, als er meinen Ausweis kontrollierte. „You are German“, sagte er. - „Yes.“ Ich dachte, ich komme leicht über die Grenze. Er fluch-te: „Go back to the border! And cut your hair!“ Der eigentliche Grund der Abweisung war bestimmt der ungeheure Rauschgiftschmuggel. - Zurück in San Diego, rempelten mich Marinesoldaten an: „Hast du da drugs in deiner Tasche?“ „Nein.“ „Cut your hair!“ Lumpiger Hippie du, dir werden sie’s bei der Army schon zeigen! - Die hatte ich schon hinter mir ...
Ich ging in eine Cafeteria, wollte eine Tasse Kaffee trinken. Ich wurde nicht bedient. Ich wartete. Ich machte mich bemerkbar, ging an die The-ke, aber wieder kam die Bedienung nicht. Schließlich kam sie: He ... ? Ich wünschte Kaffee. Sie notierte - aber statt Kaffee erhielt ich etwas später nur die Rechnung. Ich ging mit der Rechnung zur Kasse, sagte, ich hätte keinen Kaffee bekommen. SMILING (Grinsen): Draußen stünde für Leu-te wie mich ein Automat. Also auf nach Flagstaff. Und von Flagstaff zum Grand Canyon.

Nach einer nicht enden wollenden Fahrt bergab, bergab, bergab - ich befürchtete schon, ich würde unten im Canyon landen - kam ich nach Grand Canyon Village. Ich stand am Rand der Schlucht und wußte: HIER BIN ICH UND HIER BLEIBE ICH. Ich treffe lauter Amerikaner, mit denen ich rede und rede und rede. Unglaublich, wie interessiert sie am alten (nun wieder neuen) Europa sind. ... Ich sitze im Schatten des knorrigen Baums am Bright Angel Creek. Von der Gruppe nebenan kommt ein Jugendlicher zu mir und erkundigt sich, warum ich noch nicht zu ihnen gekommen bin. Ich entschuldigte mich damit, daß ich von all meinen Impressionen (er sieht mich schreiben) so müde sei, so müde von all den Menschen, die ich traf, daß ich mich hier etwas ausruhen wollte. Er verstand mich sehr gut - und dann führten wir ein langes Ge-spräch über Europa und die amerikanischen Probleme. Viele suchen einen neuen Weg, sie sehen auf Europa. Ich sage, wir fangen noch ein-mal an bei JEFFERSON. We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal; that they are endowed, by their Creator, with certain unalie-nable rights; that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness ...
Einer reicht mir eine Taschenlampe - es wird schnell dunkel im Canyon.

Gestern Abend saß ich mit sechs Amerikanern am Feuer - fast alle Ju-gendlichen, die ich treffe, sind Studenten, die mit dem Auto oder per Anhalter in der Ferienzeit durch ihr Land reisen. Meine rechte Hand zittert und mit links kann ich nicht schreiben, irgendein Insekt hat mich gestern Nacht in den Unterarm gestochen. Wir saßen am Feuer, unter-hielten uns, es war warm, gemütlich - auf einmal kreisten mehrere Ziga-retten - ich rauchte zum ersten Mal Hasch - verdammte Moskitos! – Der Joint machte einige happy, zufrieden, ruhig oder redselig. Ich denke, dieses teure Zeug macht abhängig. „Warum ist es euch wichtig?“, frage ich. „In Amerika ist es leicht, Probleme zu bekommen.“ Ich frage, ob da Hasch hilft. „Sometimes.“ Sie haschten regelmäßig, lehnten aber LSD und schärfere Drogen als physisch und psychisch zu gefährlich ab. - Wir sprachen über die freie Liebe. Sie waren gegen das Kommunen-Leben und meinten, daß Sex eine ganz persönliche, private Angelegenheit sei. Sie fragten: Was denkst du über den Vietnam-Krieg? Indochina-Krieg, sagte ich. Ist Muskie gut für uns? (Nein.) Alle geben Ted Kennedy eine Chance. Für alle war Bob die große Hoffnung, Jack war es, der die libera-le Bewegung erstmals nach dem Krieg in die Administration führte und unter der Weltjugend eine liberale Bewegung entfachte. - Wer ist Willy Brandt? – Keiner hat die Befürchtung, daß Deutschland wieder einen Krieg vom Zaune brechen würde, sie rechnen Westdeutschland zu den friedlichsten Nationen. Aber sie haben Angst, Amerika könnte entglei-sen. Ich denke an die Prophezeiung meiner Tante in New Jersey: „POI-SON IVY will take over the planete!“ Die Erde, ein ganzer, ein einziger Grand Canyon. Und am Schluß allen organischen Seins lösen sich Gott und die Idee des Menschen in Wohlgefallen auf. E = mc2 ohne homo sapiens sapiens.

Jewtuschenko schrieb 1972 sein Gedicht „Wer bist du, Grand Canyon?“ als Natur-Metapher der amerikanischen Geschichte und gesellschaftli-chen Probleme. Die letzten beiden sybillinischen Verse mahnen, Kraft und Schönheit der riesigen Schlucht politisch abzubilden im Zusammen-leben – unum e pluribus. Aber Traum und Selbsttäuschung bleiben un-überwindbar.

Grand Canyon du voller Trugbilder
wie ein Nôtre-Dame von Amerika
vollgestopft mit allem möglichen wie eine Scheune
Wie Amerika hast du keine Ordnung geschaffen
Vielschichtig
bist du Grand Canyon wie
Amerika
Wie Amerika
unkoordiniert und dissonant
aber selbst derart zersplittert
bist du ganz
Gott schuf dich mit der
Teufelsdreistigkeit
eines Frank Lloyd Wright
Wer bist du Grand Canyon
Du bist
was das Volk verdient

Ich blieb sechs Tage in der Schlucht. Ich schlief auf meiner Decke im Freien am Ufer des Bachs, der vor seiner Einmündung in den Colorado aufgestaut war. Eines Morgens sah ich in die Augen eines Maul-tierhirschs, der sich über mich beugte und in aller Ruhe davon trabte, als ich die Augen wieder schloss. Ich war noch nicht wach und erlebte die kurze Begegnung weder als Traum noch als Wirklichkeit. Zwei Nächte verbrachte ich im Zelt eines Mädchens aus Indiana. Morgens, mittags und nachmittags schwammen wir im kühlen Wasser des Bright Angel Creek. Die Jeans trockneten schnell in der heißen Luft. Nachts wander-ten wir mit anderen jungen Leuten durch die Phantom-Creek-Schlucht, der schmale Pfad schimmerte dunkelgelb im Mondlicht.
Das Mädchen wanderte am nächsten Morgen hinauf zum Rand der Schlucht. Good bye. Ich blieb in der Schlucht. Auf dem Rücken am Bach liegend suchte ich am Himmel den Kondor. Große Vögel flogen über den Felsen, aber ich erkannte sie nicht im Flimmern der heißen Luft. Oft ging ich zur Phantom Ranch, die ein paar hundert Meter bachaufwärts liegt. Dort übernachten die Touristen, die auf Eseln in die Schlucht ritten. Als ich mich der Ranch näherte, sah ich den Coca-Cola-Automaten. Es war keine Fata Morgana. Ich warf einen Vierteldollar in den Schlitz, und der Automat spuckte eine eisgekühlte Flasche aus. Was für eine grandio-se Reklame! Das Bild vom Coca-Cola-Automaten brennt sich ein ins Hirn und bleibt ein Leben lang. Ich entdeckte das Stromkabel, das sich die Felsen hinauf schlängelt. Ein paar Meter weiter gab es an einem klei-nen Kiosk Eistee.

großes tal. rot adernde torsos. falten fiebern. lebendsteine wach-sen zum blauleeren himmel. augen wandern von rand zu rand horizonten. baumfragmente splittern im luftsog. zitterndes far-benwandern zum tiefen loch illusion. schreie gerinnen in spalten von felseneinsamkeit. wehen kühl wider. lachender hirnhall. taub ohrt das tal. schmaler lall stummer leerer ideen von todna-tur und schattenspiel. nichts wandelt welt. kein warten auf stern-schnuppenlange hoffnung. echo verlorener zukunft. ruhe sanft -


(revidiert 12.2.2013)

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AndreasG (15.01.10)
Hallo Uli.
Zuerst dachte ich ja: "Hey, da passt der Einstiegssatz: Na, ein wenig mehr hättest Du schon schreiben können ..." doch dann begann ich zu lesen. Und ich muss sagen, dass es mir richtig gut gefallen hat. Natürlich ist es keine "echte" Kolumne, aber da ist eine Melodie in den Zeilen, die mich bis zum Ende lesen ließ. Die eigenen Gedanken, Beobachtungen und Erlebnisse sind schön durchmischt und jeweils nicht zu lang. Wirklich eine gelungene Erzählung.
Meckern? - Klar, ein paar Kleinigkeiten gibt es ja immer. Die Worttrennung der vorherigen Formatierung etwa. Wobei ich den in Mode geratenen Running Gag nicht vermisst habe und darum auch nicht ansprechen möchte.
Liebe Grüße, Andreas

 DanceWith1Life (15.01.10)
dichte rasante Bilderfahrt durch das Land, in dem alles viel grösser ist als bei uns, hat Erinnerungen an meine Reisen wachgerufen, eigentlich sollte dich jemand bitten, in genau dem Stil eine Reise durch das heutige Deutschland zu beschreiben.

 Dieter_Rotmund (15.01.10)
Müßte es im ersten Satz nicht heißen: "stehenzubleiben"?

Ansonsten stören mich die vielen überflüssigen Bindestriche doch sehr - Möööööönsch Bergmann, die 5 Minuten hättest Du Dir ruhig nehmen können!

Die politischen Exkurse finde ich eher fad, dafür den Rest sehr lebendig und auch spannend.

 Bergmann (15.01.10)
Ich schmeiß die Trennungsstriche noch alle raus. Bedenkt auch: Ich schrieb den Text vor 40 Jahren, da dachte ich noch nicht so tief wie heute.

 Bergmann (15.01.10)
Und: Der Text ist in der alten Rechtschreibung belassen.
Ich habe einige (andere) Fehler korrigiert und die falschen Trennungsstriche beseitigt.

 Dieter_Rotmund (16.01.10)
Danke! Viel schöner so!
Alte Rechtschreibung ist okay, bin FAZ-Leser...
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