KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 12. August 2010, 13:38
(bisher 2.830x aufgerufen)

Entwurf und Endfassung

211. Kolumne

ENTWURF

Tina
(anderer Name?)
[für KRITISCHE KÖRPER]

Einmontieren:
Ein Arzt, der seine Kinder zwei Jahre lang quälte, wurde gestern zu sechs Jahren Haft verurteilt. Der Mann hatte dem neunjährigen Sohn einen Nagel in den Handrücken geschlagen, hieß es in der Urteilsbegründung des Aachener Landgerichts. Die Mutter, die regelmäßig dabei zusah, wie ihr Ehemann die sechzehnjährige Tochter sexuell missbrauchte, erhielt eine Haftstrafe von drei Jahren wegen unterlassener Hilfeleistung. Aus Angst davor, ins Heim zu müssen, hatten sie die Misshandlungen, Schmerzen und Erniedrigungen ertragen und sich schließlich den Großeltern anvertraut.

Erzählung / Handlung:
1. ? Vorspiel der Kreuzigung - unmittelbar mit ‘Geißelung’ beginnen?
2. Freiwillige Kreuzigung (Hinrichtung) (Opferung) einer Frau
Vorgang nur beschreiben) im Real-Theater - nach Matthäus-Evangelium ins Jetzt übertragen - Opferritual von Theater-Enthusiasten

Sie riefen, ihr Blut für uns (und unsere Kinder). Geißelung: Streicheln, reizen, liebkosen. Roter Mantel: Entkleidung. Dornenkrone: Maske. Rohrstock in die Hand geben: die Peitsche eines Mannes. Verspottung.
Und sie führten sie unter den Schädel, das ist die Mitte des Schnürbodens:
Kreuzigung: Fix machen. Arme und Beine weit auseinander (Kreuz). Nägel durch Hände und Füße. Aufgehängt an einer Bühnen-Wand, die nach oben schwebt, sich umdreht nach unten, so hängt die Gekreuzigte an der Decke - ein Grab in der Luft. Darüber eine Tafel mit Angabe ihrer Schuld. Blut tropft in eine Wanne.
Mich dürstet. Es ist vollbracht.
Sie lästerten: Rette dich selbst, wenn du die Tochter Gottes bist. Die Priester: Sich selbst kann er nicht retten. Steige herab und wir glauben dir.
Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde. Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Schwamm mit Essig. Sie schrie auf und starb.
Der Vorhang im Tempel zerriss von oben bis unten in zwei Stücke, und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen. Die Wachen fürchteten sich.
Grablegung in einer Felsengruft. Ein großes Erdbeben - Engel (wie der Blitz und sein Kleid weiß wie Schnee) wälzt Stein weg und sagt zu den Frauen: Sie ist nicht hier, denn sie ist auferweckt worden von den Toten.
Sie kam ihnen entgegen: Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden. Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.

3. Schluss oder Nachspiel

? mit Anspielung auf Oskar Panizza’s „Die Menschenfabrik“

- - -

ENDGÜLTIGE FASSUNG

Tina

Ein Arzt in Pankow, der seine Kinder zwei Jahre lang quälte, wurde gestern von einem Schwurgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt. Der Mann hatte dem neunjährigen Sohn einen Nagel in den Handrücken geschlagen. Die Mutter, die regelmäßig dabei zusah, wie ihr Ehemann die sechzehnjährige Tochter vergewaltigte, erhielt eine Haftstrafe von drei Jahren.

Der Fall war für eine junge Schauspielerin konzipiert, die sterben wollte. Tina. Die anderen Schauspieler, die den Status von Komparsen oder Handlangern hatten, überlebten die Aufführung.

Der Eiserne Vorhang war noch geschlossen, als das Stück schon lief. Die Zuschauer schwiegen. Axthiebe. Splitterlärm. Hammerschläge. Abenddämmerung über den Köpfen. Im schwarz lackierten Betonhimmel kreisten die Planeten. Die eletronisch gesteuerten Monde begannen zu glimmen. Die Glühfäden summten, das Metall der Scheinwerfer dehnte sich und knisterte scharf. Das Licht schlug gegen den Vorhang, der sich nun langsam öffnete. Motoren dröhnten aus der Unterbühne nach oben ins flutende Licht. Morandi, der in den allernächsten Dingen einen unerzählbaren Kosmos entdeckt, inszenierte die einmalige Aufführung. Die Schönheit der Dauer war das Prinzip seiner Theaterarbeit. Tisch und Bett sind das konstante Maß aller Dinge, sagte er immer wieder während der Proben, die er Skizzen unserer endgültigen Zukunft nannte. Ich töte, weil ich leben will, sagte er. Ein Theaterstück ist eine Schlacht. Sie widersprachen ihm nicht. Sie unterwarfen sich seiner Idee des Lebens, die sich nur auf der Bühne entfalten konnte, im Umschlagen von Schein zu Sein lag die Wahrheit des Spiels, das wussten alle. Und es kam nicht darauf an, ob die Zuschauer diese Idee von Anfang an durchschauten. Je später sie merkten, was gespielt wurde, umso härter traf sie der Erkenntnisschmerz. Das ist der Punkt. Morandi reagierte auf die zerbrechliche Dauer der Schönheit mit solch revolutionärer Sensibilität, weil sich das Trauma seiner Kindheit andauernd wiederholte. Der Tod des Vaters, eines aufgeklärten und weltoffenen Mailänder Kaufmanns, hatte ihn erschüttert, als er zehn Jahre alt war und noch glaubte, dass wir weiterleben, wenn wir sterben. Die Mutter, die unheilbar erkrankt war, zog mit den Geschwistern nach Bologna in die Via Fondazza. Da verlor er die Heimat und beendete seine Kindheit. Von diesem Schlag erholte er sich nie wieder. Morandi träumte in seinen wahren Tragödien den Anfang einer helleren Kindheit. Ich führe nur auf, was ohnehin geschieht.

Sie riefen ihre Haut und dachten ihr Blut. Tina stieg aus dem Schatten ins Licht. Die Männer zogen die Messer, stießen die Frauen zu Boden und kamen näher. Tina schaute über ihre Köpfe hinweg, sagte nichts. Diese leidenschaftliche Sturheit, von der so oft in den Proben die Rede war, weil Morandi damit das Glück verband, das er verlor, entsprach der kultivierten Ereignislosigkeit ihres Lebens, die immer dann wahre Wunder hervorbrachte, wenn Tina alles um sich herum ignorierte. Je stummer ich über sie hinweg ins Nichts schaue, umso schärfer werden sie, das macht sie aber handlungsunfähig, dachte sie. Ich genieße diesen Zustand, Stillleben kollektiver Gefühle, eingefrorene Gegenwart oder angehaltene Zukunft. Morandi hat Recht, das fühlte sie jetzt. Sie können mich streicheln, mit den Messern meine Haut ritzen, ich spüre nichts. Sie ziehen mich mit ihren Augen aus. Wenn ich nackt bin, trage ich ein rotes Kleid. Wie war das möglich? Sie führte die zwischen Gegenstand und Abstraktion hin und her schwingende Realisierung der Gefäße vor Augen, die Fremdheit des Wirklichen. Das wusste Morandi. Die Zuschauer ahnten es nur. Sie sahen Gläser, Flaschen, Vasen, Schachteln, Kannen, Becher, Tassen, Schalen, Seifendosen oder Ölkanister, aber sie sahen nicht, was hinter den Dingen steckte. Morandi untersuchte nicht nur das Wesen der Dinge.

Tina fühlte ihre Haut im Griff der Augen, die sie spießten. Sie entzündeten den Kopf. Die Haare brannten ab. Die Flamme schluckte die Luft über ihr. Die Wurzeln wuchsen nach innen und stachen ins Hirn. Sie fühlte den Stock in der Hand, die Peitsche des Mannes, die sie verlachte. Sie führten sie unter den Schädel des Schnürbodens. Wir machen sie fertig. Sie fixieren mich. Sie spreizen Arme und Beine weit auseinander. Jetzt haut er den Nagel durch Hand und Fuß. Aufgehängt bin ich wie ein Bild. Ich hänge am Holz. Das schwebt nach oben, dreht sich um, nach unten fällt der Kopf. Sie hängt nun mitten in der Luft. Darüber leuchtet eine Tafel mit Angabe ihrer Schuld. Blut tropft in eine Wanne. Das Symbolische verwerfe ich ebenso wie das Metaphorische. Es gibt weder eine Bedeutungsebene noch eine Hierarchie der Dinge, es gibt nur das nüchterne Bekenntnis zum Objekt, das Ding pur. Ich habe Durst. Die Farbe meiner Haut verdämmert und erlischt, sie gibt den Dingen eine so ferne Präsenz. Ja, die Gefäße, die ganz dicht beeinander standen, sind ganz eingekerbt. Mein Körper gräbt sich ein. Die Rampe ist mein Horizont, der Hintergrund wird dunstiger Himmel! Sie denken, ich kann mich doch retten. Wenn ich falle, glauben sie mir. Ich rette mich nicht so wie sie. Je reifer das Werk, umso mehr glückt die Annäherung ans Wesentliche. Meine Stärke ist die Stummheit. Meine Stille verpflichtet. Ich habe es geschafft. Ich bin lesbar, ein Gedicht an die Dauer. Aber mir wird dunkel vor den Augen. Die Bretter zersplittern. Warum verlassen mich jetzt alle? Ich sehe ja gar nichts mehr.

-

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (20.08.10)
Verstehe ich nicht. Endfassung für was? Für ein Theaterstück?
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram