KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 16. Januar 2015, 10:17
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Figuren

440. Kolumne


Die Automatenwelt der Romantiker fand ich schon als Jugendlicher toll, etwa die Puppe Olympia - was für ein Name! - in Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Ich bin also ganz automatisch ein Neoromantiker.
Was mein Leben betrifft, durch das ich mit erarbeiteter Leichtigkeit zu gehen scheine (sicher bin ich mir da nur zeitweise), so kommt mir das Leben außer mir oft so fremd und drohend vor. Ich werde immer unsicherer angesichts des zunehmend finsterer werdenden Bildes, das ich von den Menschen habe. Die Gesetzmäßigkeit (oder hohe Wahrscheinlichkeit), mit der sich Hass, Neid, Gewalt, Gier nach Geld, nach Macht, nach Menschenkörpern, blöde Sehnsucht nach Liebe, Wärme - und vieles andere mehr - ereignen, machen mir Angst: Ich wäre zu schwach mich in einer Notsituation diesen Verhältnissen entsprechend so zu verhalten, dass ich überlebe - oder umgekehrt: Ich wäre stark genug das zu tun, was ich zutiefst verachte: Gewalt gegen andere anzuwenden um zu überleben. Das Bad in der Masse, etwa bei großen Jahrmärkten, erinnert mich immer an das Umkippen ins irrsinnige tödliche Chaos. Manche hedonistische Pirouetten, die es innerhalb des struggle of life gibt, machen mir Angst. Rechts-Radikalismus ängstigt mich. Das ordinäre Verhalten vieler allzu wenig kultivierter Menschen. Der Verlust an Erziehung und auch an Umgangsformen. Dem steht das Bunte gegenüber, die Lust der Möglichkeiten - ich könnte auf den Wunden der Achillesfersen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse auch Oden zum Ruhm unserer freieren Zeit formulieren ... Am schwersten ist die Angst vor dem Tod, genauer: Vor dem Sterben. Denn trotz (wegen?) allem lebe ich verdammt gern!

Ich bin völlig gespalten: Als Lehrer versuche ich eine l(i)ebenswerte Welt zu vermitteln, spüre meine partielle Verlogenheit dabei, weiß, dass meine Schüler meine Erkenntnisse darüber, wie die Wirklichkeit (auch) ist, nicht verstehen (wollen). Das ist doch alles absurd!
Also wird das Leben in uns selbst wichtig. Das ist der Traum. Das ist ja auch Castorps Versuch. Seine Zuflucht auf dem Zauberberg ist nicht nur Stillstand, sondern auch (s)ein Weg zu sich selbst. Gut, das reicht nicht. Daher sind die Träume auch in meinen Texten so grauenvoll wie die Realität bzw. das was wir davon erkennen und uns ein-bilden. Vielleicht ist deswegen in uns so eine Strafkolonie, die uns wieder hinausschickt: Zum Du, und von da zur Gesellschaft und ihrer Gestaltung, jeder nach seinem Vermögen, auf dass dies dann zurückwirkt auf uns, nach innen.
Die Gesellschaft, Staat, Nation gelingt besser als der Einzelne, versagt aber auch oft schlimmer. Ich habe wenig Vertrauen in die bisher beste Staatsform. Die Lebens-Bedingungen (Kapitalismus, Kampf oder Konkurrenz der Triebe) sind, genau betrachtet, abschreckend.
Die Technik flößt mir noch nicht so viel Furcht ein wie die deformierte und deformierende Psyche vieler Menschen. Auch der Terror gegen New York ist physisch weniger interessant als psychisch. Allerdings werden alle psychischen Impulse in ihrer letzten Konsequenz eben auch physi(kali)sch sichtbar. Aber da habe ich immer schon vor einer schlagenden Faust mehr Angst als vor einer explodierenden Bombe. Die Bombe tickt im Hirn. Das Hirn ist nicht besser als die Bombe. Und es nützt gar nichts, dass wir das wissen. Schon bin ich wieder beim Traum.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 toltec-head (16.01.15)
"Spaßgesellschaft" ist unter dem Niveau dieses schönen Texts, Grosser.

 Bergmann (16.01.15)
Danke, mein Wertester, ich ändere die Formulierung mir und dir zuliebe.

 Dieter_Rotmund (16.01.15)
Sehr gerne gelesen, auch wenn mir der Bezug zum von mir wenig geschätzen Werk von Thomas Mann nicht gefallen hat. Anders gesagt: Mir geht's ähnlich, ich lese dazu aber lieber Thomas Bernhard!

 FRP (16.01.15)
"sondern auch (s)ein Weg zu sich selbst."

- Aber was ist Castorps "Weg zu sich selbst" am Ende? Eine,
Verzeihung, es muß gesagt werden: dümmliche Konkluio zum Gang in den 1. Weltkrieg, was zeigt, dass er in all den Jahren nichts verstanden hat. Mein lieber Thomas, das war ganz großer Murks (wie auch andere Teile des Buches); alles was Krankheit, Kontemplation, In-Sich-Hineinhorchen, Figurenzeichnung betrifft, ist wie immer großartig gelöst. Mit Ausnahme dieses anarchistischen Ex-Jesuiten.

Mit der Welt geht es - nach den Illusionen der 60er Jahre - drastisch bergab. Aus meiner Sicht ist es so: Solange der Mensch irgendeine Idee, ein Prinzip, eine Idee von Gott, eine "Weltanschauung", einen Propheten und dergleichen Überfluss mehr - über das Leben selbst stellt, hat er nichts kapiert. Und er richtet sich für nichts als eine Fiktion zugrunde. Und dereinst, oder: allzunah - ein gescheiterter Versuch in einem kalten Universum sein.

Was bleibt nun zu tun? Aus meiner Sicht, und: für mich! ist es die Redundanz zu mir unter Ausschluß von Weltgeschehen und Öffentlichkeit. So hätte es Castorp auch halten sollen, statt die letzte Puste im Schützengraben zu verlieren.

 Bergmann (16.01.15)
Dieter R.:
Thomas Bernhard schätze ich auch sehr!
Dass so viele auf kv Thomas Mann ablehnen, verstehe ich nicht. Die große Bildung und die sehr geschliffene Sprache, vielleicht auch der soziale Status Thomas Manns - sind diese Aspekte Motive sozialen Neids? Oder vermag so mancher Leser nur ganz gegenwärtige Texte verstehen?

FRP:
Ja, Castorps Weg zu sich selbst (und zur Erkenntnis der für ihn maßgeblichen Realität) scheitert.
Ich schrieb dazu an anderer Stelle:


Als ich nach meiner Schülerzeit den Zauberberg noch einmal las, erkannte ich erst die ästhetische Struktur, die metaphorische Vernetzung. Ich wusste damals auch noch nicht viel von Thomas Manns Leben, nichts über seine Veranlagung. Als ich vor einigen Jahren den Zauberberg zum dritten oder vierten Mal las, wurde mir Castorp zum ersten Mal ganz ungeheuerlich. Ich meine seine Liebesunfähigkeit und seine Unfähigkeit, die Erkenntnis vom „Schnee“-Kapitel ins Leben umzusetzen. Außerdem ist mir heute die Zeit-Struktur des Romans klarer, während mich früher nur das Philosophieren über die Zeit interessiert hatte. Am besten gefällt mir heute - sprachlich - der Schluss des Romans, der so kalt und warm zugleich ist, kalt gegen den tumben Hans Castorp, der in den ersten Gefechten fällt, warm wegen des Liedes vom Lindenbaum und der im Schluss versteckten Humanität, die im „Schnee“-Kapitel explizit formuliert wird als Gebot: „Du sollst dem Tod keine Macht einräumen über deine Gedanken.“
Das sind fünf Seiten, die plötzlich aus dem „raunenden Imperfekt“ (TM) ins Präsens fallen. Es ertönt die Fanfare der Gegenwart. Der Erste Weltkrieg wird zur schlimmstmöglichen Wende für Hans Castorp und viele andere, wenn auch oft erst im Angesicht des Grauens an der Front. Der Autor beschreibt Castorps Sturmlauf in seinen Tod mit einem seltsam anteilnehmenden und zugleich frostig distanzierten „Wir“. Ich kenne keine härtere Kälte gegen eine Romanfigur, die uns alle mitmeint, als diese im letzten Kapitel. Sie reißt nicht nur Castorp aus dem Stumpfsinn, sondern auch den Leser, vielleicht gilt das erzählende Wir auch ihm. Das ist kein pluralis maiestatis, sondern ein richtendes, ein heimlich didaktisches Ich im Sinne des pars pro toto. Es beginnt die Erzählung vom Todeslauf Castorps mit einem aufrüttelnden Erschrecken: "Wo sind wir"? Was ist das? - Eine halbe Seite später die lapidare Antwort: „… es ist der Krieg.“ Der Erzähler nennt Castorp dann einen „gutmütigen Sünder … im schwergesogenen Mantel, mit Sturmgepäck“ und zieht das Fazit angesichts des 7-jährigen Dornröschenschlafs, aus dem keine Prinzessin ihn erettete: „… das war kein Lustwandel“. Jetzt wechseln Imperfekt und Präsens, die Zeit gerät durcheinander. Der Erzähler dokumentiert eine Weile später die Unsicherheit seiner Vorstellungen vom Kampf und das Unverständnis gegenüber dem Krieg und dem völlig unbedachten Hineinschlittern in den Tod, jedenfalls was Castorp angeht; er begreift sich wieder in einem eigenartigen Plural: „wir schauenden Schatten am Wege…“ Es folgt eine Anspielung auf den mediterranen Traum vom paradiesischen Glück im „Schnee“-Kapitel, das Castorp am Morgen nach seiner Erkenntnis-Odyssee im Schnee schon wieder vergessen hat.
Und nun kommt - nach fast eintausend empathischen Seiten! - die entschiedenste Kälte, die ein Autor und Erzähler seiner Romanfigur widerfahren lässt: „Da ist unser Bekannter, da ist Hans Castorp!“ Der Erzähler, jetzt allwissend, sieht Hans Castorp blind in den Tod stürmen. „Was denn“, staunt der Erzähler, „er singt!“ Der Erzähler tut natürlich nur so. Das ist bittere Ironie gegen die Romanfigur. Sie wird verurteilt, im metaphorischen Netz eingefangen, denn nun folgt das Lied vom Lindenbaum: „Ich schnitt in seine Rinde / So manches liebe Wort - “
Schon fällt Castorp. Im Lied sind Liebe und Tod verbunden. Schubert hat das schöne Lied Wilhelm Müllers vertont. Der Leser singt mit Castorp die Verse mit. Der steht noch einmal auf, „bewußtlos singend: ‚Und sei-ne Zweige rau-uschten, / Als rie-fen sie mir zu-’. Der Erzähler verschweigt die folgenden Verse: Komm her zu mir, Geselle, / Hier findest du deine Ruh’!
Ja, die Verse treffen es genau! Castorp war schon tot, bevor er starb. Er lebte ja kaum. Er sehnte sich nach Liebe, unfähig Liebe zu geben oder zu empfangen. Er sah in der Sehnsucht die größtmögliche Steigerung der Liebe. Er traute der Realität nicht, und so entging er ihr im Träumen, mitten im Leben, bis er fällt, sinnlos, keine wirkliche Idee steht hinter Castorp. Er ist der scheiternde Parzival.
„Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. … Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht um deinethalben, denn du warst simpel … und wir verleugnen nicht die pädagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe für dich gefaßt… Fahr wohl -“, ruft der Erzähler Castorp zu, denn der ist der Prototyp des tumben Deutschen, der sich in den Ersten Weltkrieg führen ließ, und später in den Zweiten, noch dümmer, noch viel weniger verführt. Ein von tragikomischen Zügen nicht freier Hermesweg in den Hades, das ist der Weg Castorps. Ein makabrer Totentanz ist der Krieg. Der Erzähler sagt noch kälter als bisher: „… das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen.“ Im Kapitel „Der große Stumpfsinn“ hat Castorp eine Ahnung vom Ende des faulen Friedens, er sieht für einen Moment die Gefahr vor sich, und er will dem Jüngsten Gericht, so nennt er es tatsächlich, entfliehen. Es gelang ihm nicht zur rechten Zeit, wie es uns allen nicht gelang - und vielleicht bald schon wieder nicht gelingen will. Der Erzähler wendet sich von Castorp endgültig ab und dem Leser seiner und unserer Gegenwart zu und formuliert die letzten Worte des Romans mit einer hoffenden, aber leider ganz offenen Frage: „Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?“
Graeculus (69)
(16.01.15)
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 Bergmann (16.01.15)
Kurzum: Ich stimme dir im Wesentlichen zu.
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