KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 29. November 2015, 21:55
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Tempora mutantur et nos in illis mutamur

485. Kolumne


Zur Literatur unserer Zeit


Annäherung: Camus las ich in den 60er und 70er Jahren, „Die Pest“ war Schulstoff im Französisch-Unterricht, aber da kamen wir über Charakterisierungen kaum hinaus. Im Rahmen meiner Abiturvorbereitung schrieb ich eine Facharbeit über den Existentialismus bei Camus und Sartre. Zu Beginn meines Germanistik-Studiums las ich „Der Fremde“. In den 80er Jahren sah ich zwei Camus-Stücke auf der Bühne. Seine Philosophie, auch die Sartres, hat mich sehr gebildet. Sartre allerdings nur durch seine Stücke, vor allem „Geschlossene Geselllschaft“, und sein Film-Script „Das Spiel ist aus“. Viel später, gegen Ende des Jahrtausends, las ich den Sisyphos-Essay, dessen Schluss mir aus der Seele sprach. „Der erste Mensch“ steht bei mir im Regal, ungelesen.
Zur Zeit arbeite ich an zwei Rezensionen zu gelesenen Büchern: Michael Fehr, Simeliberg, und Holger Benkel, Seelenland, Gedichte.

Zwischenschritt: An gute Bücher kam ich seit meiner frühesten Kindheit. Ich las Bücher, die heute kaum ein Kind oder Jugendlicher noch liest: Karl May, Curt Goetz, John Knittel, John Fenimore Coopers „Lederstrumpf-Geschichten“, Mark Twains „Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn“, Herman Melvilles „Moby Dick“, Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“, Sienkiewicz’ „Quo vadis“, Lew Wallace’ „Ben Hur“ – später Dürrenmatt, Frisch, Grass (freiwillig!) ...
Ich spüre daran, wie alt ich schon geworden bin. Dabei lese ich auch die neuesten Bücher, allerdings nur dann, wenn sie mir Neues zeigen, sprachlich und formal formal. Ich lese z. B. nicht den neuesten Flüchtlingsroman. Uwe Tellkamps „Turm“ zwang ich mir auf, weil ich in der DDR aufwuchs, die Erzählung schleppte sich hin, und erst die Dresd-ner Theaterfassung riss mich mit. Tellkamp bekam für den Vorspann des Romans – darin die Annäherung an Dresden aus der Vogelperspektive – den Bachmann-Preis. Dann folgt ziemlich konventionelles Erzählen, das sich oft in Details verliert, weil es dem Erzähler um Authentizität geht in seinem realistischen Gemälde der DDR aus der Perspektive einer teils privilegierten Schicht Dresdner Akademiker, die in den unzerstörten Villenvierteln von Oberloschwitz und dem Weißen Hirsch wohnten.

Ankunft: Andererseits: Sophie Roche’s „Feuchtgebiete“ und Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ wollte ich lesen – Roche wegen des dreisten Erfolgs mit einem Schreibkonzept, das immer wieder mal in der Literaturgeschichte auftaucht: Der interessante, freche Mix an zeitgeistigen Themen, Problemen und Sprachebenen. Schikaneders „Zauberflöte“ war so ein Mix, eine Art Musical wie die „Horror Picture Show“ fast zweihundert Jahre später. Goethe flog auf den gekonnten Wiener Klamauk rein, ahnte Tiefen, die er einfach selber konstruierte.
Hegemann interessierte mich wegen ihrer Plagiate (past and copy). Diese Plagiats-Melange aus Pubertäts-Imbiss-Gedanken, die sie mit ein paar eigenen Lebensfetzen und zu einer Pseudotragikomödie verrührte, wurde ein verlegerischer Erfolg im Promi-writer-Fluidum ... Interessant, weil durch sie viele erstmals aufmerksam gemacht wurden auf die literarischen Blogs, Zines und social websites etc.

Überblick: Die große Mehrheit der Bildungsbürger und Neu-Gebildeten hatte bis dato kaum eine Ahnung, dass massenhaft viele Menschen aus allen Schichten literarisch ernsthaft schreiben und auch schreiben können! In den 60er Jahren, als ich Schüler war, wagte kaum jemand zu schreiben, die Medien waren dafür gar nicht da, es gab nur Verlage, die streng das Wenige aussortierten, das ihnen meist artig vorgesetzt wurde. Und, ebenso wichtig, es gab noch keinen Deutsch-Unterricht, der Literatur wirklich als Kunst servierte und dazu anregte, selber zu schreiben.
Es gibt heute Hunderte von Print-Literaturzeitschriften. Die großen Literaturzeitschriften, AKZENTE oder SINN+FORM, waren einmal Leit-Publikationen, sie haben heute nur noch wenige Tausend Abonnenten. Die poetischen Print- und Online-Medien sind Legion! Und die Literatur-Vielfalt ist gewachsen. Comic und Comedy, Horror und Trash, Rap und Slang und viele andere Sorten und Nuancen der Sprach- und Lebensfelder stiegen auf in die höheren Zonen, wo früher die Luft des Lebendigen dünner wurde und der Geist immer astraler. Und auch die erzählerische und sprachliche Qualität sitzt heute in einer viel breiteren Spitze. Das wollen viele noch nicht wahrhaben, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die sprachlichen und formalen Ideen finden wir eher selten bei den Bestsellern, die von den Massen gelesen werden.

Ausblick: Die zweite, dritte und vierte Liga, längst schon keine Subszene mehr, wird zunehmend zur Konkurrenz, wenn auch noch längst nicht kommerziell. Gelesen wird Poesie und Erzählprosa immer mehr im Internet, immer mehr per e-Books oder Dateien, die sich Leser und Autoren zusenden. Wir sehen heute erst die - allerdings interessante - Spitze eines gigantischen Eisbergs einer Schreib- und Lesekultur, die aus den Tiefen so-zialer und multisingulärer Vielfalt auftaucht, quasi aus dem Unter-Bewusstsein schreibender und lesender Kollektive a-bürgerlichen Zuschnitts. In einer Hinsicht gewann die Literatur in den letzten Jahrzehnten am meisten und überzeugendsten: an Vielfalt! Die Grenzen zwischen E- und U-Literatur werden zunehmend dehnbarer und sind oft schon irrelevant. Das dient der Erhaltung einer breiten Leserschaft. Ich glaube allerdings nicht, dass heute mehr gelesen wird als vor fünfzig oder hundert Jahren. Ob die gegenwärtige Literatur Werke hervorbringt wie die Epochen von der Klassik und Romantik bis hin zur Zeit eines Thomas Mann, das wird sich erst noch zeigen. Einige Hauptwerke von Frisch, Grass, Handke, Walser und einiger anderer bedeutender Autoren unserer Gegenwart werden wahrscheinlich genauso überleben wie die von Schiller, Goethe, Kleist und Co. Wie es den Werken der noch jungen Ära virtueller Literaturvermittlung ergehen wird, ist schwer zu sagen. Wenn die subszenischen Literaturen ihren underground-Charakter wei-terhin verlieren, stirbt die noch geltende Hierarchisierung von Geschriebenem, Gedruckten und virtuell Veröffentlichtem an der Vielfalt der Themen, Länder und Sprachen, Lesererwartungen und Medien. Dieser Prozess ist schon seit einigen Jahrzehnten im Gange. Eines Tages wird es so weit sein: Das alte Buch ist tot – es lebe das neue!

Ulrich Bergmann, 13.10.2015

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(27.11.15)
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 loslosch (27.11.15)
ein beispiel für tote bücher: meine 2 meter lange sammlung der schach-informatoren. durch die entwicklung des computerschachs ist alles obsolet. mir bleibt der wohlgefällige blick darauf.
Graeculus (69)
(28.11.15)
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 Dieter_Rotmund (29.11.15)
Da si-nd im Te-xt ein pa-ar Bin-de-striche, die da ni-cht hin-gehö-ren.

 Bergmann (29.11.15)
Danke, Dieter!
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