Wo alles endet.

Gedanke

von  erdbeermund

Der Zigarettenrauch zieht an mir vorbei, verfängt sich kurz in meinem Atem, der dichten Rauchwolken gleich in den Himmel zieht.
Die Steintreppe, abgewetzt, windet sich der Musik entgegen die kalt und unaufhaltsam die Nacht zur Hölle macht, aggressiv, wütend und voll Geschrei.
Es ist nicht mein Tag-
es ist nur die Nacht die mir die unfassbare und unbegreifliche Nähe bringt, die ich nie sah.
Ein halber Meter Abstand zur Realität, das schien mir angebracht um nicht begreifen zu müssen was wirklich geschieht, um nicht auf die unausweichliche Smalltalkfrage "Wie geht´s dir?" mit "Danke, beschissen, und dir?" antworten zu müssen, um nicht sagen zu müssen, dass ich nicht lebe und ich jeden Tag auf mich selbst warten muss.
Ich gehe auf endlosen Schienen, die sich der Sonne entgegenstrecken, die sich fläzen und ausbreiten auf ebener Fläche, die sich nicht darum kümmern ob nun ein ICE oder eine Regionalbahn auf ihnen vorbeibrettert.
Jeder einzelne betonumwühlte Stein dieser Treppe bohrt sich in meine Beckenknochen,
wie schon hunderten verzweifelt Betrunkenen vor mir, nur dass ich nicht betrunken bin.
Ich lechze förmlich danach,
lecke jeden Moment auf und lasse ihn auf der Zunge zergehen um einen winzigen Moment das Glücksgefühl zu spüren und einfach nur zu lächeln, ohne Grund.
Neben mir ein mir gänzlich Unbekannter, dreht sich einen Joint und zwängt konzentriert seine Augenlider unter seine Brauen um seine sich auflösende Pupille an das blendende Licht der Strassenlaterne über ihm zu gewöhnen.
Er ist nicht betrunken, er sucht sein Glück nicht im Ersaufen der Wirklichkeit.
Er flüchtet in eine ganz eigene Welt, in eine Welt die nur er kennt, die er mit jedem Zug neu entdeckt, sich vollfüllt mit Gefühlen wie ich sie nicht kenne.
Ein erneuter Zug von meiner Zigarette, das rote Glimmen erinnert mich an irgendwas. Rot, Warnung, Ampel, Stopp!, Notaufnahme, Wut, Liebe, rot ist die Farbe die der Stier nicht sehen kann.
Hat das Leben eine Farbe?
Was sieht er neben mir, wenn er mit dem Rücken auf die kalten Stufen sinkt und die Augen vor Glückseligkeit schliesst?
Das mittlerweile nicht mehr ganz so kalte Getränk neben mir rinnt mir den Hals hinab.
Ich weiss nicht was es ist.
Ich war noch nie betrunken.
Aber vielleicht heute.
Wenn sich der Rauch ein letztes Mal mit dem süßlichen Geruch, der neben mir seine Bahnen zieht, vermischt-
vielleicht bekomme ich mich dann zurück, an einem Ort,
den keiner kennt.
Vielleicht hat er neben mir ihn schon einmal gesehen,
ich weiss es nicht.
Vielleicht finde ich mich da wieder.
Da, wo alles endet.

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Kommentare zu diesem Text


 Secretgardener (16.10.06)
Wow, und die ersten zwei Sätze haben mich gefangen.
Der Erste ist so bildlich, ich sehe regelrecht, wie sich der Rauch verfängt.
Und dann erst der Zweite. Wie sich der Satz von der Treppe über die Musik zur Nacht, zur Hölle und dann Deinen Gefühlen windet, finde ich großartig.
Meine privaten Verbesserungsvorschläge sollen nicht hinwegtäuschen darüber, daß ich Deinen Text wirklich toll finde.
Der Satz mit den Schienen, den betonumwühlten Steinen oder auch mit dem roten Glimmen sind großartig.
Dein Stil hier zeigt so viel Erfahrung und Liebe zur Sprache; erstaunlich für Dein Alter.
Wirklich toll gemacht Fraggle.
Liepste Grüße, Angelo.

 erdbeermund meinte dazu am 19.10.06:
Hab herzlichen Dank für Deinen tollen Kommentar, ich hätte nie gedacht dass es jemandem so gut gefallen könnte was ich da schrieb.
Es ist ein für mich persönlich sehr wichtiger und bedeutender Text, der viel von mir enthält - von daher freue ich mich wirklich sehr(!) dass es bei Dir so viel Anklang gefunden hat!
Alles Liebe von Lara
para.gone (26)
(16.10.06)
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 erdbeermund antwortete darauf am 19.10.06:
Ui, da hast Du den Text aber detailreich interpretiert, das freut mich! Schön zu sehen dass sich jemand die Mühe macht sich so viele Gedanken zu machen und das in einer Interpretation zusammenzufassen! Zuerst einmal danke dafür, und auch danke für Dein Kompliment, ich bin froh dass der Text auch Dich erreicht hat!
LG erdbeermund

 Janoschkus (21.10.06)
Also es sind durchaus einige gelungene Stellen enthalten wie z.B.
"Rot, Warnung, Ampel, Stopp!, Notaufnahme, Wut, Liebe..."
klasse wie du den alarmierenden Gedankenschuss rüberbringst. Die Farbe rot kommuniziert mit deinem Gewissen. Hoffentlich behälst du dir das bei und das Rot verblasst nicht allmählich gen Rosa oder gar Farblos...

"Ein halber Meter Abstand zur Realität, das schien mir angebracht um nicht begreifen zu müssen was wirklich geschieht..."
schön, dass du das (noch) steuern kannst.
nun etwas unmoralisches: vielleicht solltest du den Schmerz des Begreifens wegen in Kauf nehmen..aber das musst du selber abwägen, ich bin mir schließlich nicht über Intensitätsfragen im klaren, kann dir also nur sagen: Je mehr Wahrheit, desto größer der Schmerz.

Liebe Grüße
Janosch
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