Briefe von Ben I

Brief

von  Judas

7. August 1899

Mein lieber Howard!
Endlich bin ich in Lamington, einem kleinen, verschlafenen Nest, eingetroffen. Cornwall ist um diese Jahreszeit normalerweise ausgesprochen sommerlich, doch die gesamte Reise von London hier her war durch und durch verregnet. Das St. Elizabeth Hospital liegt etwas Abseits und auch wenn ich durchaus eine kleine Wohnung bei einer netten, älteren Dame im Dachgeschoss gemietet habe, so vermute ich fast, dass ich meine erste Zeit Tag und Nacht in der Nervenheilanstalt verbringen werde.
Während ich dir diesen Brief schreibe, sitze ich sogar schon an meinem Schreibtisch in dem mir eigens zugewiesenem Arbeits- und Studierzimmer. Ich habe hier einen Ausblick auf das riesige Grundstück hinter dem Gebäude, das liebevoll von einem Gärtner gepflegt wird. Es sind sogar schon ein paar Äpfel reif! Und mir wird klar, dass die ruhige Lage, fern vom Rest der Welt, wie geschaffen ist, um die psychischen Krankheiten der Patienten hier zu heilen.
Ich muss an dieser Stelle abbrechen, da mich die Oberschwester nun zu einem ausführlichen Rundgang durch den gesamten Komplex eingeladen hat.

Ben

Ps.: Das Gebäude ist gigantisch. Wir sind mehrere Stunden gelaufen und nun erwartet mich etwas durchaus Interessantes im unteren Geschoss, weshalb ich den Brief an dieser Stelle beende.


13. August 1899

Ich bitte um Verzeihung, Howard,
dass mein zweiter Brief aus Lamington so lange hat auf sich warten lassen. Aber es gab die letzten sechs Tage einfach so viel zu erledigen, zu sehen und kennen zu lernen, dass ich jedes Mal zu erschöpft war, um zur Tinte zu greifen. Aber ich werde natürlich meinen Bericht an dich nun nachholen.
Wie ich dir im ersten Brief schrieb, wurde ich zu einem besonderen Gebäudekomplex des Hospitals geführt. Man riet mir ja schon im Anschreiben des Hospitals, dass ich für den Beruf als Psychologen hier eiserne Nerven bräuchte, da im St. Elizabeth nicht nur Depressive, Demenzkranke und Zerstreute betreut wurden. Das untere Geschoss ist ein gigantisches Kellergewölbe, größer noch als der Grundriss des Hospitals selbst. Die Oberschwester bestätigte meine Vermutung auch schnell, denn sie sagte, dass sich diese Gänge und Räume bis unter den Garten zogen. Und genau dort unten, wo nur kleine Kellerfenster Tageslicht hinein lassen (ansonsten wird hier alles bis auf die Ärztezimmer sehr altmodisch mit Kerzenlicht beleuchtet), wird primär meine Arbeit liegen. In den Zellen, die allerdings wie schlichte doch saubere Zimmer eingerichtet sind, befinden sich Patienten mit Krankheitsbildern, bei denen ich mir noch nicht sicher bin, ob sie mich faszinieren oder abstoßen. Die erste Woche brachte ich damit zu, mich flüchtig über die Insassen des Kellergewölbes zu informieren. Es sind nicht viele und gerade die hinteren, tieferen Teile dieses Abteil des Hospitals sind unbewohnt und deshalb dunkel und staubig. Vermutlich quietschen einige Mäuse durch die leeren Gänge und Zellen, aber mehr auch nicht.
Die Oberschwester übergab mir ohne Zögern alle Unterlagen und Akten der ‚unteren Patienten’, wie sie hier von den Pflegern genannt werden, mit den Worten, dass ich mir die Mühe nicht machen bräuchte, die meisten der Insassen wären unheilbar krank und waren schon in den Zellen bevor sie hier anfing zu arbeiten und man mache sich die Mühe nicht mehr, da einige von ihnen auch gefährlich seien.
Es ist mir durchaus klar, dass hier auf dem Land wohl die Methoden zur Heilung Geisteskranker nicht annähernd so fortgeschritten sein können, wie in London. Aber dafür bin ich ja nun da.
Dir aufzuzählen, was in den Patientenakten steht, macht gewiss nicht viel Sinn und würde dich wohl eher langweilen, aber so viel sei dir gesagt: es wird nicht einfach für mich werden. Fast alle Krankheiten der Menschen im Kellergewölbe konnten laut Akten nicht genau definiert werden, da sie entweder völlig unbekannt sind oder Symptome etlicher Krankheiten in sich vereinen.
Mit einigen Patienten habe ich mich bereits unterhalten. Einer von ihnen, alle nennen ihn hier Eddy, scheint mir eigentlich sehr vernunftbegabt und in seiner Patientenakte ist nur etwas von Wahnsinn niedergeschrieben.
Du siehst, auf Ausführlichkeit wurde kaum geachtet.
Es gibt viel für mich zu tun!

In Freundschaft,
Ben
 


18. August 1899

Howard!
Ich danke dir für deine rasche Rückantwort. Es freut mich zu lesen, dass deine Frau wieder genesen ist. Ich sagte dir ja, die Einkaufsstraßen Londons heilen alle Gebrechen! Vielleicht sollte ich auch eine der Patientinnen mal dort hinschicken, sie leidet an manischer Depression und ein Bummel durch unsere Straßen würde ihr sicher wieder die Freuden des Lebens vor Augen führen.
Dass das Wetter bei euch entsprechend schlecht ist, war ja fast zu erwarten, aber ich kann dir ja von den herrlichen langen Sonnentagen in Lamington berichten. Es ist so warm, dass ein Spaziergang durch die kühlen Gänge des Kellegewölbes mehr Erholung bietet, als ein paar Schritte durch den Garten. Doch die Hitze bringt auch Vorteile, denn die meisten der Patienten sind träge und ruhiger geworden, so dass auch die Schwestern und Pfleger mal entspannen können.
Meine Patienten, wie ich die in den Zellen der geschlossenen Abteilung im unteren Geschoss nun schon nennen, sind allerdings so seltsam und unerklärlich wie immer. Ich habe mich die Tage über oft mit Eddy unterhalten; er konnte mir viel über seine „Kollegen“ hier unten berichten. Eine Frau, die ganz hinten eingesperrt ist, hat Angst vor der Dunkelheit – aber auch Angst vor dem Licht! Das einzige, was sie erträgt, ist das schwache Licht einer einsamen Kerze in ihrem Zimmer. Sie kauert die ganze Zeit davor, mit dem Rücken zur Wand und starrt die kleine Flamme an. Einmal, erzählte Eddy mir, vergaßen die Pfleger, die Kerze rechtzeitig durch eine neue zu ersetzen und während der Nacht brannte die Flamme herunter – sie soll das ganze Hospital zusammen geschrieen haben, schrill wie eine Sirene. Ihr Name ist Clara – ironisch, nicht?
In der Zelle neben Eddy lebt ein Mann, gebaut wie ein Bär. Die Pfleger schieben ihm Essen und Trinken durch eine kleine Klappe an der Tür, denn sie wagen es nicht, das Zimmer zu betreten. Auch mir wurde es verboten; und du kannst dir vorstellen, wie sehr es mich ärgert, einen Patienten über ein kleines Gitterfenster behandeln zu sollen! Vielleicht setze ich mich noch irgendwie durch, mich wenigstens normal mit ihm unterhalten zu können, ohne das Gefühl zu haben, mit einem inhaftierten Mörder zu sprechen.
Viele hier unten sind tatsächlich Paranoia und Wahnsinn erlegen. Doch gib es noch zwei weitere, sehr interessante Fälle. Jeremiah, ein schlanker Schwarzer, leidet an einem äußerst seltenen Fall der Persönlichkeitsspaltung: er ist nicht ganz Multipel, aber auch weit über das Stadium der Schizophrenie hinaus. Er selbst nennt sich „Angel“ und ist auch gewiss ein herzensguter Mensch, ja fast ein Heiliger. Doch sein zweites Ich, „Baal“, benimmt sich wie das Urböse. Ich weiß noch zu wenig über Jeremiah, vermute aber, dass sich als seine positiven und bewussten Eigenschaften in der einen und all seine negativen, triebgesteuerten und auch instinktiv bösen Charakterzügen in seiner anderen Persönlichkeit gesammelt haben. 
Dann gibt es noch eine junge Frau von vielleicht 25 Jahren. Laut Oberschwester ist sie seit 5 Jahren im St. Elizabeth und hatte sich damals mit einem besonnenen Lächeln selbst einweisen lassen, nachdem sie ihren Bruder, Vater und Mutter mit einem Küchenmesser ermordet hatte. Ihr Name ist Jennifer Goodfellow, aber sie reagiert nicht auf diesen Namen und möchte Liam genannt werden. Ihre Akte ist geistige Verwirrung, Unzerechnungsfähig, Psychosen, Paranoia und Schizophrenie als Krankheiten zu entnehmen. Bestätigen kann ich bisher nur, dass sie nicht von dieser Welt ist.

Liebe Grüße auch an deine Frau,
Ben


Anmerkung von Judas:

wird fortgesetzt.

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Kommentare zu diesem Text


 Egozentrikerin (06.01.08)
Bin total begeistert...die Story hat endlich eine Basis und Clarks Briefe stehen nicht mehr so allein und tlw. unverstanden im Raum...ich mein gut ich weiß ja mittlerweile schon worauf es hinausläuft, aber endlich hat man was handfestes zum bestaunen...super gemacht, hast den Urlaub gut genutz...freu mich schon auf die Skizzen, nach dem was du erzählt hast müssen die ja echt bombig werden...Liebste Grüße von der Ego-Tante

 Mutter (14.03.11)
Cool und gekonnt.

 Dieter Wal (26.01.13)
Super geschrieben! Wundervoll anschaulich. Kein Wort zuviel. Lässt mich an die Briefe in Drakula denken. Die psychiatrischen Details dieser Zeit kommen hin. Woher deine medizinhistorischen Kenntnisse?

 Judas meinte dazu am 26.01.13:
Lovecraft und Poe :D

 Dieter Wal antwortete darauf am 26.01.13:
Poe schrieb über engl. Nervenkliniken? Las als Hupfer sein Gesamtwerk. Etw. länger her ...

 Judas schrieb daraufhin am 26.01.13:
Das nicht. Aber durchaus über Geisteskrankheiten seiner Zeit ;)
Graeculus (69) äußerte darauf am 30.01.18:
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