Von der Zuneigung

Erzählung zum Thema Hass

von  Mutter

Als ich Gerd das erste Mal von meinen Problemen erzählte, wiegelte er nur ab. Es sei völlig normal, dass Jungs ihre Lehrerinnen attraktiv und sexy fänden, und Fantasien über sie hätten. Aber er verstand das Problem nicht – Frau Hansen war keine junge, blonde Lehrerin mit Pferdeschwanz.
Sie war klein, etwas dicklich, hatte rote Haare mit platt gelegener Dauerwelle und ein Bulldoggengesicht. Und sie war gemein. Zu allen von uns. Ich hatte nicht mal besonders unter ihr zu leiden, andere waren da viel schlimmer dran. Im Normalfall bekam ich nur etwas ab, wenn ich zufällig im Weg stand. Kollateralschaden, sozusagen.
Jedenfalls gab es keinen Grund, sie attraktiv zu finden.
Völlig egal, meinte Gerd. Jungen in dem Alter, die würden sogar die Silhouette eines Lampenschirms, entfernt geformt wie ein Rock, als Wichsvorlage benutzen.
Aber ich war da anders. Mich machte so schnell kein Lampenschirm an – egal wie aufregend geformt. Bei mir mussten auch Gefühle im Spiel sein.
Offensichtlich mussten das aber keine positiven Gefühle sein. Nicht Zuneigung, Vertrauen oder Sympathie, vielleicht sogar Liebe. Hass und Verachtung reichten scheinbar aus.

Ich hasste Frau Hansen. Wir alle hassten sie, aber ich tat dies mit einer besonderen Inbrunst. Ganz ehrlich, wenn ich in der 10. Klasse die Möglichkeit gehabt hätte, sie zu töten, sie einfach verschwinden zu lassen, ohne dass der Verdacht auf mich fällt? Ich hätte es getan – ohne mit der Wimper zu zucken. Die Mathestunden mit ihr waren die Hölle.
Jahre später, als ich das erste Mal den Herrn der Ringe las, da verstand ich auf Anhieb, was mir Tolkien sagen wollte – Frau Hansen war meine Kankra, meine Ungolianth.
Manchmal weinte ich nachts, weil mich ohnmächtiger Zorn schüttelte. Sie war uns intellektuell überlegen, und angefüllt mit Bosheit. Und ihre gesammelte Unzufriedenheit mit sich und ihrem kleinlichen Leben ließ sie an der Sekundarstufe II aus. Sie terrorisierte uns.

Aber am Meisten machte mich mein Verlangen fertig. Nachts ohnehin, aber manchmal saß ich auch im Unterricht mit einer Erektion da, und ich konnte nicht verstehen, warum ich war wie ich war. Warum konnte ich nicht die kleine Maja Schuhmann begehren, oder die groß gewachsene, wenn auch etwas tollpatschige Gudrun mit dem sanften Gesicht? Oder Sofia, die bereits so große Brüste für ihr Alter hatte, die größten des Jahrgangs?
Nein, mein Objekt der Begierde musste der obszöne Dämon Frau Hansen sein.

Ich machte mein Abitur, kam über sie hinweg und musste ihre spöttische und hässliche Fratze nie wieder sehen.
Aber als ich dann ganz ähnliche Gefühle gegenüber meiner Ausbilderin Frau Wassnitz entwickelte, und sie mich derart erregte, dass ich manchmal während der Arbeit aufs Klo gehen musste, um mich zu erleichtern, kam mir ein schrecklicher Verdacht.
Frau Wassnitz konnte Frau Hansen in Widerwärtigkeit und Bosheit nicht das Wasser reichen – aber auch sie war unansehnlich, an guten Tagen sogar unappetitlich, und sie war nicht nett. Nicht zu uns, den Auszubildenden, und nicht einmal zu den Kunden.
Keiner von uns konnte sie leiden, aber ich war vermutlich der einzige, der nachts zu fantastischen Bildern von ihr stöhnend kam.

Nach dem Ende der Ausbildung war ich Frau Wassnitz los – aber je mehr ich über meine Beziehungen, und vor allem über die Frauen, die ich in meinem Leben jemals begehrt hatte, nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dass ich in tiefen Schwierigkeiten steckte. Marlene, die nur aus Schadenfreude zu bestehen schien, die misanthrope Katharina und die kleine Kerstin, die nur Gift und Galle spucken konnte.

Und davon hätte ich Gerd nie erzählen sollen. Woher sollte ich wissen, dass er mit dir darüber reden würde? Dass er dir, wenn auch in guter Absicht und um mir zu helfen, diese Ladung widerlicher Innereien meiner verdorbenen Seele direkt vor die Füße kippen würde?

Ich sehe zu, wie du endlos lange im Bad verschwindest, jeden Tag. Früher hast du nie besonders viel Zeit im Bad verbracht. Jetzt ist alles anders – du schminkst dich, weinst, schminkst dich erneut und weinst am Ende wieder.
Wenn du endlich herauskommst, siehst du aus wie das Starlet aus einer französischen Cabaret-Truppe, die ihre Aufführungen nur bei strömendem Regen durchführt.
Ich sehe dich an, völlig hilflos, würde gerne etwas sagen, was alles besser macht, was dazu führt, dass dich der Selbsthass, und die Zweifel nicht länger zerfressen. Damit das Würgen aufhört. Aber ich kann nicht. Es gibt nichts zu sagen.
Gerd hat bereits alles gesagt.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(05.12.08)
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 Mutter meinte dazu am 05.12.08:
Das ist cool - das reicht mir.

Obwohl ich gestehen muss, dass ich, als der Text fertig war, ich auch ein bisschen überrascht war von der Endung. So isser nämlich gar nicht losgegangen, der Text. Aber das passiert halt manchmal ...

Bin froh, dass wa nich' streiten müssen ...

(Aber bedanken tu' ich mich nicht - diss haste erstmal verspielt, Missy ...)

 Isaban (05.12.08)
Oh, was für ein herrlich bitterböser Text!
Und wie ungemein sarkastisch, wie sich das arme aktuelle Biest nach der Erkenntnis quält, warum der Protagonist überhaupt mit ihm zusammen ist.

Meine Empfehlung!

Liebe Grüße,
Isaban

 Mutter antwortete darauf am 05.12.08:
Vielen lieben Dank ... :)

*sichartigverbeug*

 BrigitteG (05.12.08)
So amüsant und bissig und gemein und trocken und selbstironisch, und dann das ernste Ende. Puh. Gut.

 Mutter schrieb daraufhin am 05.12.08:
Puh. Danke schön ... :D
Perkele (40)
(11.05.09)
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 Mutter äußerte darauf am 11.05.09:
Cool, vielen Dank ...

 Dieter_Rotmund (18.05.20)
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