Take this to Heart

Text zum Thema Vergänglichkeit

von  Erdbeerkeks

Keiner hört mehr zu.
Emily schlägt die Decke zurück, es geht ihr überhaupt nicht so schlecht, wie alle behaupten. Im Schutz der Dunkelheit verhallen ihre leisen Schritte im Zimmer, unbemerkt durchquert sie den Flur, stößt die zweiflüglige Tür der Station auf, huscht durch das Treppenhaus und öffnet drückt die Klinke hinunter, die sie davon abhält, die Wahrheit zu erfahren.
Bis zum Baum ist es nicht weit.

Das Mondlicht flutet die Umgebung, das Gras raschelt unter ihren Füßen und sie hört es, so leise ist alles. Die Sterne und die Kastanien, die stummen Zeugen ihrer nächtlichen Wanderung sagen nichts, sie starren geduldig.
Der Wind streicht an ihren nackten Beinen entlang und es scheint ihr, als ob alles sie nach vorn drängt. Dazu, nur stetig einen Schritt vor den anderen zu tun, nur damit sie endlich dort ankommt. Weil sie jeder abgehalten hat, jeder verhinderte, endlich zu verstehen.
Sie setzt sich unter den Baum und blättert in seinem Brief, der schon ein bisschen nass geworden ist, aber nicht zu nass, um Gerards wunderschöne Handschrift zu verwischen.

Gerard hat schon immer weiße Rosen gewollt. Einen ganzen Haufen davon besitzt er jetzt.
Gerard wollte schon immer ein Gedicht gewidmet bekommen. Ganze Reden gebühren ihm nun.
Und während Emily, rechts und links eingerahmt von unbekannten Menschen sitzt und zuhört, lächelt sie bitter, denn keiner dieser Menschen kennt ihn.
Keiner weiß, woher er kam, was er dachte, was er vorhatte, wohin er wollte und vor allem, warum er ging. Sie alle reden davon, wie großartig er war, wie einzigartig, klug und warmherzig.
Aber die Wahrheit ist, dass Gerard kalt war, außer zu ihr.
Dass Gerard nichts zu anderen sagte, sondern nur redete.
Dass er nicht lernte, sondern lebte.
Der glänzende, schwere Kasten wurde angehoben, die Pforten geöffnet. Er sah aus wie ein Flügel, ein Konzertflügel, das hier ist Gerards letztes Stück.

Emily.
Menschen brauchten schon immer Erklärungen. Aber du als eine der wenigen hast sie verdient, ohne nach ihr gefragt zu haben.


Emily folgt ihnen und geht als Letzte.

Du weißt, dass ich nicht log, als ich dir mein Wort gab. Du weißt, ich würde niemals wagen, dir leere Worte an den Kopf zu werfen. Du weißt so vieles und mehr, als du jemals zugeben wolltest. Du hast nicht bloß gelernt, all die Jahre hindurch. Vielmehr warst du bei mir, denn der, der lernt, denkt meist genauso. Du als einzige, die mich je verstand.

Sie lassen ihn hinunter, denkt sie. Der Mann mit dem Buch in der Hand blickt reuevoll, als wäre er Schuld. Er sagt ein paar letzte trauernde Worte, obwohl Emily weiß, dass er nicht trauert.

Du lerntest, zu verstehen, zu sagen, was andere hören wollten, um deinen Willen zu kriegen, du lerntest zuzuhören, ohne preiszugeben und zu helfen, ohne zu wissen. So viele kleine Dinge, die du alle irgendwann einmal brauchen wirst. Doch nun, mit diesem Brief, wirst du hoffentlich verstehen, dass die letzten Tage und das, was ich in ihnen sagte, nur der krönende Abschluss eines Meisterwerkes war.

Jeder Gast, trauernd oder nicht, bedeckt seinen Sarg mit Erde. Emily gehört nicht dazu. Sie steht daneben und sieht zu, wie etwas Unvergessenes begraben wird.

Enttäuschung durch einen geliebten Menschen, die Überraschung und die Bitterkeit die eine solche mit sich bringt.

Das komische Lächeln.

Die Vergebung für genau diese Person, denn du weißt, dass Vergessen nicht heißt, nichtmehr daran zu denken, sondern nur bedeutet, nichtmehr darauf zu achten.

Der Kuss.

Und schließlich die letzte Lektion. Die, die dir am meisten abverlangt, ohne zurückzugeben und die ich doch als die wichtigste betrachte.

Emily weint.

Das Leben ohne etwas, das du immer als lebensnotwendig erachtet hast.
Mach dort weiter, wo ich aufhörte.


Melancholie in schwarzer Tinte.

In Liebe,
                                   
Gerard.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram