Schisma Sentenza

Kurzgeschichte zum Thema Andere Welten

von  RainerMScholz

Die insektengleichen, konischen Bleikugeln schlugen durch das Kartonpapier der Zielscheibe und klackten gegen das Metall des trichterförmigen Kugelfangs. Lenz nahm noch einen Schluck aus der braunen Halbliterflasche Bier, knickte den Lauf der Luftdruckpistole nach vorne ab, lud nach, zielte und schoss. Er dachte an bedenkenswerte Passagen aus Burroughs` Western Lands, an grauen Asphalt im schwarzen Novemberregen, überlegte, wie kalt es im Gefrierfach seines Kühlschranks sei, spürte beinahe, wie hell die Sonnenstrahlen auf Tahiti sein müssen, dachte eigentlich an nichts bestimmtes, nahezu an nichts, saß im Zwielicht eines Vorherbstnachmittags auf dem zerschlissenen Sofa und schoss auf die an der gegenüberliegenden Wand aufgehängte Scheibe mit Kreisen und Kreuzen darauf. Vor dem schlierigen, smognebelgrauen, mit Fliegendreck übersäten Fenster starrten die Männer der Baufirma misstrauisch zu ihm herein, unterhielten sich rau feixend und hämisch, auch ein bisschen neidisch vielleicht auf ihn, der dort drinnen saß und keiner wirklichen Tätigkeit nachging, um sich dann wieder ihrer Fassadenrestaurationstätigkeit zu widmen.
Klack! - die Kugel schnarrte durch den siebten Außenring. Aus den Boxen klang gedämpft und aus dem Hintergrund „Load“ von Metallica. Vielleicht war es auch „Reload“. Er fand die Musik ein wenig zu lahm und quälend kommerziell dazu, war aber zu träge aufzustehen, um etwas Besseres oder Schnelleres aufzulegen. In der Spüle der Küchenzeile vergammelte das schmutzige Geschirr einer Woche, Fliegen sirrten um den toten Kaktus auf dem Fensterbrett, der Kühlschrank quengelte unregelmäßig ein Brummen. Lenz hatte schwarze Fußsohlen von dem ehemals rotgemusterten Teppich. Er griff links neben sich, riss den Kronkorken vom Hals des frischen Bieres, kreuzte die Beine über dem niedrigen 50er-Jahre-Tisch mit dem hässlichen dunkel-hellbraunen Quadratmuster, legte an, zielte und - es läutete an der Tür. Die Bauarbeiter, dachte er, hielt das kalte Glas der Flasche fest und wartete, ob es erneut passieren würde. Er hatte einen neuen Türöffner mit Hörerschale zum anderen Ende der Welt, wie ihm manchmal schien - eine lächerliche Einrichtung, die sich in klinischem Weiß von dem Rest seiner Wohnung abhob, besonders von der Tapete, überflüssig dazu, da er direkt zur Eingangstür sehen konnte, wenn er die Wohnungstür öffnete, vier Stufen hinab und die Sonne schien, je nachdem. Er würde dieses obeliske, fremdkörperartige Hörerding - Hallo? Wer ist da? Nein, ich lasse sie nicht herein, hahaha! - niemals wirklich brauchen können in dem Sinne, wie es der Hersteller vorgesehen hatte. Es läutete abermals, also ging er eben, um zu öffnen.
Der Mann, der da die Treppenstufen zu seiner Tür emporschritt, die besagten vier, hatte ein auberginefarbenes Jackett, dezent geschnittene graue Schlaghosen und schwarzglänzende Halbschuhe an und lächelte aus einem verlebt wirkenden Gesicht heraus.
'Nein, wir kaufen nichts', dachte Lenz und ging in Abwehrstellung, als er ihn jedoch zu erkennen glaubte.
„Hallo Lenz, wie geht's?“, und eine breite wurstfingrige Hand kam hervorgeschossen, als der andere bereits im Dieleneingang stand wie festgeschraubt.
„Sven Hauck, kann nicht wahr sein, äh, komm doch 'rein.“
„Siehst gut aus, Junge. Ich war gerade in der Gegend und dachte: schau doch 'mal 'rein.“
„Tja, das ist ja wirklich nett von Dir, äh, Sven. Mit Dir hätte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Eigentlich hatte ich Dich schon abgeschrieben. Irgendwie. Willst Du 'was trinken?“
„Kaffee?“
„Kaffee? Ja klar, ich mach´ gerade welchen.“, log Lenz, zog sich die Jogginghose hoch und ging voraus in die Küche.
Sie kannten sich vom Grundwehrdienst bei der Bundeswehr. Für ihn eine unnötige, überflüssige, nervenzermürbende Zeit perforierter Inkommensurabilität, gedankenverwichster Sinnentleerung und bewusstseinszerfetzender Alkoholexzesse. Sven Hauck musste auf eine Lenz unverständliche Art und Weise eine positive Erfahrung zurückbehalten haben, denn nun erzählte er von „früher“, und das schien wirklich schon sehr lange her zu sein, als sie sich hier gegenübersaßen.
„Bei Dir hat sich ja anscheinend nichts verändert. Dieselben Metalposter, Che Guevara und der Rote Stern an der Wand, die braungerauchte Tapete - was soll eigentlich die Knarre hier?“
„Mir war bloß langweilig.“
„Was machst Du eigentlich so? Studierst Du noch?“
„Jaja, gelegentlich.“
„Aha, klar. Und immer noch der Alkohol und so.“
„Hast Du's Saufen aufgegeben oder was?!“
„Nun, ich werde älter, wie Du übrigens auch. Ich werde wohl demnächst heiraten und...“
„Was? Mach Dich nicht lächerlich. Schluss mit Durchdiegegendficken für Sven? Weiß Deine baldige Frau auch schon davon?“
„Sicher, und Kinder wollen wir auch.“
„Ja sicher. Und Versicherungsvertreter bist Du auch.“
„Ja, stimmt genau.“
Er machte ein neues Bier auf. Das war zu absurd, um zu antworten.
„Ich verkaufe den Leuten den ganzen Scheiß: Hausrat, Brandschutz, Altersvorsorge.“
„Hat Dich ja früher nicht allzu sehr interessiert.“
„Ja gut, Lenz. Aber ich will mich auch selbstständig machen, mit eigener Agentur und so. Und die Flocken stimmen. Die Leute sind halt zu blöd. Da kann man immer noch `was mitnehmen.“
„Das ist ja interessant.“
Draußen marschierten die Bauarbeiter an ihrem Baugerüst auf und ab, knarrten mit ihren Stiefeln über die hölzernen Planken, trugen Werkzeug hin und her, träumten von vollbusigen Blondinen, sahen in den Himmel, tranken billiges Dosenbier, dachten an zu Hause.
„Ich versuche, 'mal ein bisschen weiterzudenken, an die Zukunft und so, verstehst Du, Lenz."
„Jaja . Alles klar.“
Sie saßen sich gegenüber und schwiegen eine peinliche Weile lang, um dann von aktuellen Kinofilmen zu reden, Musik – „geil, die Metallica, was?“ -, Frauen im allgemeinen, Biersorten im besonderen und fragten sich insgeheim, was sie sich eigentlich jemals zu sagen gehabt hatten.
Schließlich ging er wieder, nachdem vollkommen deutlich geworden war, dass er hier keine V-Police los werden würde. Auf keinen Fall nicht und nie und nimmer. Und sie würden sich ohnehin nie wiedersehen. Er hob seinen Auberginenkörper aus dem klapprigen Sessel vom Sperrmüll und verabschiedete sich mit einem säuerlichen Gesicht und einem verlogenen Wunsch, die persönliche Zukunft Lenz´ betreffend.
Die Kugeln klackten gegen das Blech. Er saß da mit dem Bier und der Pistole und dachte über Reinkarnation nach, Antibabypillen für bereits Geborene und festgerostete Kanaldeckel im Straßenbelag. Er stand vom Sofa auf, ging zur Stereoanlage, nahm die CD aus der Lade des Abspielgerätes und schleuderte „Load“ (oder „Reload“) aus dem Fenster. Die Blätter an den Bäumen wurden schon gelb und braun und rot, und es sah sehr gut aus im Vesuvlicht des Großstadtsonnenuntergangs.


© Rainer M. Scholz

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