V.
 Inhalt 

VI.

Erzählung zum Thema Abrechnung

von  Lala

VI.

Samstag in acht Tagen war also Premiere für Frau Helm. Der Plan war schnell gestrickt, die alte Olympia Schreibmaschine aus dem Koffer geholt, das Papier eingespannt und natürlich, die kluge Frau baut vor, fand sie, im von Kurt so getauften Siedlerschrank, ein frisches Farbband.

Den ersten Brief schrieb sie Anna Amalia. Sie sei eine stille Bewunderin ihrer Kunst und kenne die Anna schon länger als die Anna sich das vorstellen könne, weshalb es ihr jedes mal in der Seele schmerze, wenn sie den Herrn Briegel mit Annas wunderbaren Versen hausieren gehen sehe. Und obendrein betrüge Briegel sie, weil der eigentlich nur Männer liebe. Wie sie aus sicherer Quelle weiß, sei sie zur Installation des großen Federkiels am kommenden Samstag eingeladen und an diesem Tage wird sich Anna von der Wahrheit ihrer Zeilen überzeugen können. Es täte ihr leid, Anna schreiben zu müssen, dass Piet Briegel nie einen Verleger angeschrieben hätte, nie versucht hätte ihre Karriere ernsthaft zu fördern, denn ihre Gedichte, ihre Zeilen hätten ihr Herz vor langer Zeit wirklich berührt.

Den zweiten Brief schrieb sie Ralphi. Ihre Zeilen waren mit : Heißer Tipp von der Rennbahn überschrieben. Friederike Helm gab sich im weiteren als einer aus, der schon vor Ralph von Piet mit angeblichen Zusagen und Provisionen über den Tisch gezogen worden war. Sie schrieb ihm von seinem Florino Tipp, den Sigeln des Kuratoriums deutscher Grabpfleger, den Rechenkünsten des Blumenmannes und machte ihm am Schluss eine Rechnung auf, die Ralphi zeigen sollte an welchem Ende die Enten fett waren. Wenn er sich selber davon überzeugen wolle, wie der Herr Briegel seinen Wetteinsatz, sein Risiko, seinen Gewinn für sich einsetze und auf Sieg spielt, solle er nur am nächsten Samstag kommen und sich vom Wahrheitsgehalt ihrer Zeilen überzeugen.

Denn Dritten an Jan. Wie lange wolle Jan sich selber verleugnen? Wie lange wolle er weder Fisch noch Fleisch, weder heiß noch kalt sein oder sich Rosen in den Hintern stecken lassen? Als ein Uli schrieb Friederike dem Jan Eric. Der Uli sei dem Illusionisten Piet schon vor Jan auf den Leim gegangen, aber dann hätte Uli begriffen, dass er nur seine Backen für Briegel hingehalten hätte, während Piet, hinter seinem Rücken, um einen anderen herumgetanzt sei, als sei der das goldene Kalb. Mittlerweile wisse Uli, dass der Andere schon immer Ralph heiße und Jan Eric könne sich von der Richtigkeit seiner Zeilen am kommenden Samstag überzeugen, wenn er den Biss hätte, das Vertrauen zu prüfen, dass er selbst bereitwillig und bedingungslos investiert hätte.


Mit gutem Gewissen, trotz der Lügen, leckte Friederike alle Briefumschläge mit Inbrunst ab und steckte sie am Freitag unfrankiert und eigenhändig in die Briefkästen der Empfänger. Die Adressen hatte sie nicht recherchieren müssen, denn ihr Toaster hatte sie alle schon ausgespuckt. Als sie alle Briefe eingesteckt hatte, reservierte Frau Helm im Cafe Metropol ihren Tisch, der genau gegenüber Briegels Blumenladen am Fenster stand, bestellte ihren Irish Coffee und den Kuchen der Saison vor. Alles für Samstags Zwölf Uhr Mittags. Friederike war schließlich erwachsen und hatte Stil. Sie wollte sehen, erleben und nicht nur via Grillradio hören was sie eingefädelt hatte.

Friederike hatte sich für Stummfilm statt Hörspiel entschieden, zumal die Technik ihres Toasters keine zehn Minuten live Übertragung garantieren konnte. Im Übrigen hatte Friederike genug Phantasie, sich anhand der Mimik vorstellen zu können, was ein Gesicht zum Anderen sagt. Erst recht, wenn sie sich des Kontextes sicher sein konnte, in dem sich die Figuren bewegen. Und Friederike hatte alles getan, um sich sicher zu fühlen. Friederike hatte den Käse, den falschen Briegel, ins Zentrum des Labyrinths platziert. Alle Ratten, die sie locken wollte, hatten die Fährte aufgenommen und waren dabei, sich den Weg zum Ziel zu erschnuppern. Zerbeißen aber würden sie ihn selbst müssen.


Als der dicke und der dünne Zeiger ihres Weckers übereinander fielen und den Alarm auslösten, blieben Frau Helm noch sechs Stunden. Zeit genug um die wichtigen Dinge zu erledigen und sich dann entspannt ins Café zu setzen. Was Friederike nicht wusste, was sie nicht wissen konnte, war der Zeitdruck unter dem das Transportunternehmen Yüksel & Wigotzki International stand, um den überdimensionalen Füller auf den Auflieger zu schnallen. Was sie nicht wissen konnte, war, dass weder Yüksel noch Wigotzki noch nie ein solches Ding transportiert hatten und ihre Methoden der Befestigung aus genau dieser Erfahrung resultierte. Natürlich waren sie im Vorgespräch überrascht gewesen, dass der Hersteller das Dingen am Stück und nicht in Einzelteilen produziert hatte. Aber mit der Flex konnten sie ihn schlecht zerschneiden. Zwanzig Minuten über der Zeit, fuhr der Auflieger mit Füllerspitze voran Samstag früh, endlich vom Hof.


Die Zigarette, heute gönnte sie sich dieses Laster, schmeckte ihr ganz vorzüglich. Ebenso der Irish Coffee. Friederike war in aufgeräumter Stimmung und grinste über Briegels roten Kopf, und seine defensive Haltung. Im Geiste stach sie mit, wenn Anna Piet immer wieder mit dem Zeigefinger gegen seine Brust stieß und ihm offensichtlich die Leviten las. Und es kam noch besser als Friederike es hatte einfädeln können, denn Ralphi und Jan stießen, von unterschiedlichen Richtungen kommend, quasi in der Ladentür zusammen. Wäre es nicht unschicklich gewesen, Friederike hätte laut aufgelacht. Die Beiden sahen sich kurz an und sie konnte es von den Lippen lesen, dass Jan den Anderen ungläubig beim Namen nannte und der verdutzt nickte. Darauf war kein Halten mehr und Jan zog wie eine Zicke an Ralphs Haaren, während der den Schauspieler überrascht wie unbeholfen schultern und niederringen wollte, als sei er der Kran von Schifferstadt.

Anna Amalia, die das Treiben an der Ladentür nicht übersehen konnte, verlor jedwede Beherrschung und brüllte zwei-, dreimal „Du Schwein!“ in einer Lautstärke, die man der zierlichen Frau im Leben nicht zugetraut hätte. Endlich gelang es Piet, ihr den Mund zuzuhalten und den beiden Hähnen in der Tür zuzurufen, dass sie doch erstmal reinkommen sollten. Anna den Mund zuzuhalten, war nicht die Beste Idee, die Piet hatte. Anna musste es gelungen sein mit aller Macht in seine fleischige Hand zu beißen.
Piet schrie auf, riss seine Hand so beherzt weg, dass Blut spritzte. Piets Schmerzenschrei unterbrach den Kampf von Jan und Ralph. Verdutzt registrierten sie gleichzeitig, dass sie ihren Zorn zuvorderst auf den Blumenmann, den Zauberer und Strippenzieher richten sollten, bevor sie sich weiter selber schlugen. Piet fluchte immer noch vor Schmerz und hielt seine verletzte Pranke, während Anna befriedigt zu lachen schien. Natürlich blieben allmählich auch andere Leute vor dem Schaufenster stehen, um das Kampfknäuel im Laden zu beobachten und verdeckten Friederikes Sicht von ihrem Logenplatz. Das allerdings hatte Friederike nicht eingeplant gehabt. Sie beugte sich auf ihrem Stuhl links zur Seite, rechts zur Seite aber die Sicht blieb schlecht. Sie musste aber wissen, wie es weiterging und stand kurzerhand mit der Zigarette in der Hand auf.

Bevor sie Piets Blick ausweichen konnte, war es zu spät gewesen. Es war wie damals beim Blick durch den Türspion. Nur dass sie sich jetzt gegenseitig fokussierten und die Welt um sie herum in den Schatten trat.

Der Schmerz in Piets Hand ließ nach und der Lärm im Laden drang nur noch gedämpft an seine Ohren. Als er das Gesicht seiner Nachbarin, ihre blitzenden Augen, ihre gespielte aristokratisch herrische Figur sah und wie sie vom besten Platz aus sein Waterloo verfolgte, wusste Piet, dass Frau Helm die Quelle seines Ungemachs war. Er wusste es einfach, denn er hatte es vom ersten Tage an gespürt, welche Dämonen in diesem Leib ihren Wahnsinn trieben.

Piet stieß mit Macht Anna zur Seite und ebenso Ralphi und Jan. Alle drei spürten, als sich Piets schwerer Körper in Bewegung setzte, dass er ein Ziel hatte und sie ihn nicht würden aufhalten können. Schwer wie eine Dampflok schob er sich an allen vorbei, zwängte sich aus der Ladentür und behielt dabei stets Friederike im Blick.

Nach einer Schreckenssekunde, in der sie sich so ertappt fühlte, wie bei ihrer Spende für das anonyme Grab, legte Frau Helm sofort wieder ihren Panzer an. „Was solls?“, dachte Friederike. „Soll er doch kommen. Soll er’s doch wissen, dass ich ihm diese Suppe eingebrockt habe. Der Knilch hat doch kein Format.“ Und so blieb Friederike stehen und wich Piets Blick keinen Moment aus. Nur der Ober, der irritiert an ihren Tisch herangetreten, als sie aufgestanden war, bemerkte, wie Friederikes Körper zitterte.


„Scheiße“, durchfuhr es den PKW Fahrer, als er den massigen Mann bemerkte, der wie im Tran auf die Straße stapfte. Mit aller Wucht hieb er seinen Fuß aufs Bremspedal und riss am Lenkrad. Die Reifen quietschten brutal auf und der Fahrer hatte sein Gesicht so verzogen, als hätte er Piet schon wie einen Stier mit seinem Kühler aufgespießt.

Der Aufprall erfolgte nicht frontal sondern seitlich. Piet wurde, als wöge er nichts, in die Luft in Richtung der Gegenfahrbahn geschleudert. Sein Körper flog so hoch, dass Friederike hinter ihrer Glasleinwand für einen Moment Piet nicht mehr sehen konnte. Es ging alles zu schnell, dass sie hätte schockiert sein können. Mit einem heftigen Krachen, platschte Piet auf die Windschutzscheibe eines anderen Fahrzeuges der Gegenfahrbahn, das seine Geschwindigkeit auch nicht auf Null hatte reduzieren können. Friederike und der Kellner zuckten gleichzeitig zusammen, als spürten sie Piets Schmerzen. Piet selbst schmierte wie ein Insekt von der Scheibe ab und sank auf den Bürgersteig genau unterhalb der Fassade vom Cafe Metropol.

Alle, die Piets unfreiwillige Straßenüberquerung verfolgt hatten, hielten die Luft an und trauten ihren Augen nicht. Der Blumenmann lebte. Er war auf seinen Knien und robbte zum Fenster des Metropol hinter dem eine erstaunlich gefasste alte Dame und ein konsternierter Kellner standen.

Auch Wigotzki und Yüksel auf ihrem Bock hielten die Luft an. Sie hatten die Zeit fast herausgeholt, sahen sich schon wie sie sich gegenseitig Fünf gaben, wippten zu den mit voller Lautstärke aus dem Radio dröhnenden Seeds of Love, hatten ihren Leitspruch schon auf den Lippen „Schnell, günstig, pünktlich!“ und freuten sich darauf es pünktlich zum Anpfiff ins Stadion zu schaffen. Yüksel wie Wigotzki bemerkten beide viel zu spät, wie vor ihnen ein Auto nach dem anderen in die Eisen gingen und stehen blieben. Unisono schrien sie auf und Yüksel, der Beifahrer, stemmte seine Arme gegen die Armaturen, presste die Beine gegen den Boden und hoffte damit vollkommen irrational Bremswirkung erzielen zu können, während Wigotzki das Bremspedal schon lange am Anschlag hatte und seine Finger, Unter- und Oberarme mit dem Lenkrad kämpften, so als wöge es soviel wie die Welt und er sei Atlas.
Aber das Heck, des ersten vor ihnen zum Stillstand gekommenen Autos, kam näher und näher. Beide waren sich sicher, sie würden es mit voller Wucht treffen und die Kolonne vor ihnen weiter zusammenschieben.

Als der LKW stand und die Kabine wieder mit einem Ächzen hoch federte ohne, dass es gekracht hatte, sahen sich die Transporteure ungläubig an, als könnten sie ihr Glück nicht fassen. Mit bloßem Auge war nicht zu erkennen, dass sie ihren Vordermann nicht berührt hatten. So knautsch auf eng war es zugegangen. Doch als die beiden Spediteure sich schon wieder Fünfe geben wollten, hörten sie dieses seltsame Geräusch. Ein Schnalzen wie ein Peitschenknall - oder das Reißen einer zu stramm gespannten Sehne.


Seine blutigen Finger sah Friederike als erstes. Langsam zog sich Piet an der Fensterkante des Metropols hoch. Er hatte keine bewussten Schmerzen, obwohl er sich jeden Knochen gebrochen haben musste. Aber er wollte ihr Gesicht sehen. Er wollte in ihre Augen sehen. In den Augen dieser alten Frau lag sein Schicksal und dem wollte er nicht ausweichen. Und Piet schaffte es tatsächlich, sich am Fenster des Cafés aufzurichten und Friederike wenigstens aus einem Augen anzusehen und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Das war Piets letzte Tat.

Der Federkiel schoss nicht gerade, sondern seitlich versetzt aus seiner Halterung. So als versuchte sich ein Laie am Bogenschießen. Der Impuls war aber stark genug, dass der Kiel über alle Autos hinweg flog und - entgeistert verfolgt von denen, die das Unheil nahen sahen mitten in ein seltsames Bulls Eye traf.


Die Scheibe erzitterte ordentlich als die Füllfederspitze Piet durch seinen Hintern hindurch an die Wand nagelte. Der Blumenmann ließ augenblicklich wie eine Marionette seine Glieder und seinen Kopf hängen. Nur noch ein Blutfleck erinnerte an den Finger Piets mit dem er auf Frau Helm gezeigt hatte.


Es dauerte nicht lange und Sirenen waren zu hören und die durch Ungläubigkeit, Furcht und Adrenalin ausgebremste Zeit tickte wieder im normalen Takt. Die Schaulustigen befreiten sich aus ihrer Starre und so wie Anna, Jan und Ralphi sammelten sie sich wie magisch angezogen, um den Blumenmann mit dem Federkiel im Arsch. Auch Friederike war wieder in der Zeit und der Bann gebrochen. Sie brauchte nicht lange, um sich wieder zu ordnen und die Situation zu überblicken. Hier waren Dinge und Mächte am Werk, und das kannte Friederike von damals, die kein Mensch kontrollieren konnte. Eine Erfahrung, die ihrer Bedienung anscheinend fehlte, denn sie musste mehrmals ihren Zahlungswunsch wiederholen, ehe der Ober reagierte. „Was wollen Sie?“, fragte der noch völlig konsterniert, weil ihn dieser Wunsch vollkommen unmöglich erschien. „Zahlen. Oder soll ich mir ihrer Meinung nach diese Schweinerei noch länger ansehen?“

Für einen Moment wollte er Friederike so gehen lassen, aber dann kassierte er sie ab.



Epilog

Die Brutalität, die Verkettungen der Ereignisse und die ungewöhnliche Aufspießung Piets wurde in den Medien breit getreten und es blieb nicht aus, dass die Journalisten, die in Piets Vergangenheit gruben seine Poeme lasen und veröffentlichten. Bald war der Blumenmann Briegel ein berühmter Dichter und seine Sonette galten als Meisterwerke. Anna Amalia, die verzweifelt ihre Urheberschaft an den Stücken reklamierte, wurde nicht ernst genommen und ihre Sucht tat ein übriges, dass sie bald gänzlich von der Bildfläche verschwunden war. Ralphi hoffte, dass die gemeinsamen Unternehmungen mit Piet nicht wahrgenommen oder überprüft werden würden, schloss aber lieber seinen Laden und tauchte ab. Nur auf der Rennbahn sah man ihn noch dann und wann. Jan, der schnell als Muse Piets galt, gewann etwas an Status, aber auch dieser Ruhm verblasste schnell. Was blieb war ein schmales Bändchen mit Gedichten, das Piets Namen vergoldete und alle zu überdauern schien.

Und Friederike? Sie wurde nach Briegels Tod nicht einmal zu ihm befragt. Sie blieb alleine in den Zimmern ihrer Wohnung. Ihre Dämonen gingen keinen etwas an und der Toaster funktionierte auch nicht mehr. Die Dinge waren wieder was sie sind: stumm. Ihr Leben lief ab wie eine Schallplatte, die vergeblich auf eine Nadel wartet. Friederike löschte das Licht und ging zu Bett. Sie war erwachsen.

ENDE

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