Im Himmel

Kurzgeschichte zum Thema Hochzeit

von  RainerMScholz

Illustration zum Text
(von RainerMScholz)
...und wanderte ich auch – draußen werden sie sich bereits zusammenrotten, auf den Plätzen und Straßen sammeln sie sich. Um mich zu bestrafen. Diese Menschen wissen nicht, worum es geht, was die tiefere Bedeutung ist. Doch mich wollen sie vernichten. Sie, die so sein könnten wie ich. Ich habe lange gebraucht, um hierhin zu kommen, an diesen Punkt. Früher war ich wie sie, so dumm und borniert, so voreingenommen und eingleisig. Auch ich hatte Angst und fürchtete mich vor dem, was ich zu sein glaubte. Doch mit Tim wurde alles auf einmal anders. Wanderte ich auch im finsteren Tal – aber damit war dann Schluss. Es ward Licht, wie es heißt. Ich hatte begriffen, dass all diese Schuld und dieses Misstrauen und der Verrat nur Trug und Scheinspiegelei sind. Um mich von der Erlösung zu entfernen. Vom lichten Weg der letztendlichen Wahrheit. Tim half mir. Und ich liebte ihn, wie man einen Menschen nur lieben kann.
Die Stimmen werden lauter, drängender. Ich glaube, sie sind schon ins Erdgeschoss eingedrungen. Bald werden sie mich hier oben finden. Ich habe die Türe nicht verschlossen, denn ich habe nichts mehr zu fürchten. Ich kenne die Wahrheit, denn er liebte mich auch, das weiß ich jetzt. Alles andere ist nur Beiwerk und Spiel, etwas, das passiert, weil wir in diesen Körpern gefangen sind. Ich liebte Tim, und er liebte mich. Und obschon sein Körper noch so jung war, geschah alles wie von selbst. Wir glitten ineinander über und unsere Körper und unsere Seelen verschmolzen. Niemand, der das wirklich versteht, könnte sagen, dass daran etwas Falsches sei. Wir waren zwei Wesen in einem. Die Zärtlichkeit, die wir füreinander empfanden, ist wie – denn du bist bei mir; dein Stock und dein Stab sind meiner Hand Führung. Ich verzweifele nicht, denn ich sehe dein Licht und nehme es auf in mir. Und bist du auch schon voraus gegangen, so folge ich doch bald nach, dir, kleiner Tim, auf ewig. Denn ist es das nicht, worum es gehen sollte: Die völlige Ineinswerdung. Und als wir unsere Körper verschmolzen, durftest du essen von meinem Fleisch und trinken von meinem Blut und ich aß dein Fleisch und trank dein Blut. Und wir sahen, dass es gut war.
Ich höre ihre Schritte auf den Treppen. Sie schreien und kreischen und fluchen und weinen, ihre Gedanken zerknäulen sich zu grässlichen Knoten, ihr Geist windet sich um sich selbst. Bald schon werden sie mich gefunden haben an diesem Ort, der meine letzte Zuflucht sein wird auf dieser Welt. Denn dann gehe ich in die nächste, in die du mir schon vorgegangen bist, Tim, mein Timi. Dort stehst du am Himmelstor und wartest auf mich und Petrus hält deine kleine Hand und die ehernen Engel Gabriel und Michael stehen zur Seite dir. Du lächelst, ich weiß es, oh Tim.
Mein Körper ist jetzt bald leer. Ich höre sie kommen. Dann werde ich bei dir sein, mein Engel, Tim. Und der Herr wacht über uns im Himmel.


© Rainer M. Scholz

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