Das schwule Tor in der 89. Minute - ein Wort wandelt sich und ich mich mit ihm

Sozialdrama zum Thema Sex/ Sexualität

von  toltec-head

Als Jugendlicher wollte ich vor allem eines nicht sein, schwul. Ich kultivierte ziemlich dogmatische Vorstellungen von Sex unter Männern, die rückblickend sicher engstirniger als die des Papstes waren. Sex unter Männern fand ich überhaupt nur als Sex unter gleichaltrigen jungen Männern akzeptabel, von denen, das war ganz wichtig, keiner unter keinen Umständen feminin wirken durfte. Kleinste Abweichungen von meiner Norm kamen mir bereits so pervers wie etwa Sex mit meinem Vater oder meiner Mutter vor, schwul eben, was ich ganz sicher nicht war. Mangelnder Praxisbezug in einer hessischen Kleinstadt der 80er, in der Schwulsein trotz oder gerade wegen der AIDS-Hysterie gar nicht mehr so verpönt war, führte zu einer zusätzlichen Verhärtung meiner theoretischen Position. In Verbindung mit Problemen, sagen wir, mehr kommunikativer oder schier logistischer Natur bescherte mein Ideal mir eine strikt sexlose frühe Jugend - jedenfalls zwischenmenschlich gesehen. Doch selbst als ich zum Studium in eine ostwestfälische Metropole zog und sich dies endlich änderte, bevorzugte ich lange Jahre für mich das heute, wenn man es ausspricht, ziemlich komisch klingende Wort "homosexuell". Eine zeitlang liebäugelte ich mit dem von mir erfundenen Neologismus "homersexuell" in Anlehnung an die Liebesbeziehung zwischen Archilleus und Patroklus, die ich mir in Unkenntnis historischer Fakten natürlich auch als eine Beziehung zweier gleichaltriger junger Männer frei jeglicher femininer Zwischentöne vorstellte. Als Homersexueller interessierte ich mich für das Schwulen- und Lesbenreferat an der Universität natürlich herzlich wenig und auch sonst für das ostwestfälisch metropolitische Schwulentum nur am Rande. Schließlich hatte ich ja eine Art Patroklus gefunden, mit dem ich mich selig vor der Welt verschließen konnte. Damals aufkommende Floskeln wie "jede Form von Sexualität sei politisch" fand ich läppisch.

(Kürzlich stieß ich übrigens, ich musste mir die Augen reiben, auf das Wort "homersexuell" bei Gayromeo und zwar auf einem Profil eines damit für sich in seiner Headline werbenden kleinen Dickerchen. Bei näherem Hinsehen stellte sich natürlich heraus, dass sein Pate für dieses Wort gar nicht der blinde Barde sondern eine amerikanische Zeichentrickserie war - eine wohlmöglich sehr viel glücklichere Wahl.)

Mit der Abneigung gegenüber dem Wort schwul war bei mir sicherlich auch die Angst verbunden, einmal als alte Schwuchtel zu enden. Früh hatte sich Gustav Aschenbach mit verrutschter Perücke, wie er mit vor Schweiß triefender Schminke einem blonden Jüngling von vielleicht nicht ganz 18 Jahren hinterherhechelt, in meinem Gedächtnis fest eingegraben. So wollte ich nicht enden. Dass ich dabei war, mir mit der verengten Perspektive des Neugriechentums eines Thomas Mann gewissermaßen mein eigenes Grab zu schaufeln, in dem ja jüngere Männer mit Neigung für ältere per definitionem nicht vorkommen konnten, kam mir dabei nicht in den Sinn. Was ich bei dem großen deutschen Homoeroten und anderen Neugriechen, die gerne auch schon mal statt von Schwulen nach der entsprechenden griechischen Göttin als von Urningen sprachen, nicht lesen konnte, und worüber ich tatsächlich auch nicht nachdachte und auch nicht fantasierte, weil es ja tatsächlich so ist, dass man beinah nur darüber fantasiert, worüber man vorher nachgedacht hat, und man nur über Dinge nachdenkt, die man vorher gelesen hat, war - dass Schwanzgröße und Handhabung derselben ein ganz entscheidender Faktor im schwulen Leben ist. Ein Faktor, der aber bei Jünglingen von nicht ganz 18 Jahren, zumal wenn sie blond sind, eben in seltensten Fällen besonders ausgeprägt zu sein scheint. Es sind ganz kleine, praktische Dinge an denen im Falle des schwulen Neugriechentums wie auch anderer Ideologien, sturer Dogmatismus sich letztlich als weltfremd herausstellt.

Aus meiner inzwischen gewonnenen praktischen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass ein Schwuler mit einem nicht ganz kleinen Schwanz, sich nicht nur keine Sorgen machen muss, als alte Schwuchtel zu enden, sondern ganz im Gegenteil feststellen wird, dass sein Marktwert mit dem Alter sogar steigt. Proust, der statt in München-Bogenhausen in Paris hockte, wo man sicher reichhaltigere praktischere Erfahrungen sammeln konnte, sprach von der Spezies junger Männer, die ausschließlich mit älteren Männern "können", immerhin als von einer Art seltener Pflanze. Aber er kannte eben noch kein Internet. Nicht nur bei jungen Türken sondern auch bei jungen deutschbackenen Bi-Sexuellen ist das Phänomen nur mit Älteren zu "können" alles andere als selten. Sich von einem Jüngeren, und sei es auch dem allerhübschesten blonden Jüngling von nicht ganz 18 Jahren ficken zu lassen, ist tatsächlich für sehr viele nicht nur keine Idealvorstellung, sondern kommt schlicht gar nicht in Frage - zumal dann nicht, wenn die betreffende Person dem eigenen Freundeskreis angehört, mit dem man noch am gleichen Abend abfeiern möchte. Die Welt ist, und dies lässt sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts selbst dann feststellen, wenn man in Bielefeld hockt, immer vorausgesetzt man verfügt über einen Internetanschluss, nicht griechisch und schwul, sondern orientalisch und bi-sexuell.

Und so schätze ich mich glücklich heute das zu haben, was ich als 18-jähriger nicht hatte, einen 18-jährigen Freund, dessen Fußballbegeisterung ich zwar nicht teile, aber bei dem ich hellhörig werde, wenn er mir von einem "schwulen Tor" erzählt, das die Roten letzte Woche in der 89. Minute gegen Bayern eingefangen hätten. Ich sehe ihn dabei ganz vergnügt an seiner Cola nippen und mit dem Handy spielen. Wie er das bezeichnen würde, was wir gerade kurz vorher noch im Bett machten, wenn das Tor in der 89. Minute also "schwul" war, traue ich mich nicht zu fragen. Nach all den vielen Jahren, nach Auflösung all meiner dogmatischen Gewissheiten, nach meiner endgültigen Befreiung aus der Ideologie des schwulen Neugriechentums Mann´scher oder sonstiger Prägung mit seinem Drama des alternden Homoeroten, habe ich immer noch vor einer Antwort ganz furchtbare Angst:

- Das ist doch ganz normal.

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Kommentare zu diesem Text

michaelkoehn (76)
(08.12.13)
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 toltec-head meinte dazu am 08.12.13:
Voll schwul, Alter. Gilt übrigens auch für deine Texte.
michaelkoehn (76) antwortete darauf am 08.12.13:
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parkfüralteprofs (57)
(08.12.13)
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