Der verborgene Huf

Kurzgeschichte zum Thema Verrat

von  RainerMScholz

Wodka sitzt auf der an den Ecken aufgeplatzten schwarzgefärbten Kordcouch und lacht und lacht und lacht. Seine verfilzten langen Haare wirbeln um sein derbes Gesicht, der Kinnbart zittert, er hat sein Bier verschüttet und sein Beinstumpf wippt auf dem Polster auf und ab. Seine Krücken, auf denen er sich mühselig einbeinig fortbewegt, sind in die Vitrine gestürzt, in der der Rest eines angeschlagenen Villeroy & Boch-Kaffeeservices stand, der Rest eines Leonardo-Weinglasservices, die Langstieligen, und der Rest einer plumpen Bierglasgarnitur aus Böhmen. Und zwei Tullamore-Whiskeygläser. Ich stehe in der Tür und starre ihn an. Die Fenster sind geöffnet, doch der Zigarettendunst liegt schwer im Raum. Destruction brüllt und sägt 'Infernal Overkill' aus den schütteren Musikboxen der billigen Privileg-Kompaktanlage. An den porösen Stellen hat das Band einen Fehler, dann knistert und knirscht es. Aber meistens geht das ohnehin im Getöse unter. Meine Nachbarin klopft zum soundsovielten Male an die Wand. Ich lege den Revolver auf den Tisch, drehe die Musik etwas leiser und schaue Wodka an, dem die Tränen herunterlaufen.
„Die ist echt, sag´ ich Dir.“
Er grinst und streichelt seinen Stumpf.
„Wirklich. Ich hätte die fast umgelegt.“
„Jaja.“
„Wirklich.“
Er öffnet eine Flasche Binding mit der Unterseite des Feuerzeugs und trinkt den tropfenden Schaum ab.
„Quatsch. Aber wie Du die angebrüllt hast...“
„Die ist echt!“
„Die hab´ ich Dir verkauft. Das ist nur `ne Gaspistole. Mit Tränengaspatronen.“
„Ich hätte die fast umgelegt!“
Im Hintergrund knirschen die Tonköpfe über ein Stück mit Tesafilm geflicktes Tonband, dann geht Destruction weiter.
„Glaube ich nicht.“

Susanne lag nackt auf dem billigen braunbeigen, schlecht verlegten Teppichboden und wusste nicht, ob sie die Beine spreizen oder überkreuzen sollte. Ich nahm das Bier, trank einen Schluck, sah mir das an, und dann winkte ich ab. Ich fand das dermaßen sinnlos, dass selbst Trinken keinen Sinn mehr zu machen schien. Ich ging einfach weg. Mit Susanne hatte ich Anja betrogen, und da war nichts mehr zu reparieren. Ich war total am Arsch. Und das aus einer Laune heraus. Ohne nachzudenken. Ohne Hirn. Und vor allem: ohne Herz.
Dabei mochte ich Susanne nicht einmal besonders. Wir saßen in der Kneipe und hatten uns nichts zu sagen, gingen ins Kino und sagten nichts, wurden zu Parties und Freunden und Bekannten eingeladen und wir sprachen lediglich aneinander vorbei. Lustlos steckten wir uns gegenseitig unsere Zungen in die Münder und tranken dabei Bier. Es war nicht, was ich gewollt hatte, bestimmt war es nichts, was sie wollte.
Und dann kam diese Feier. Susanne wollte, dass ich das unbedingt veranstaltete. Warum auch immer. Vielleicht aus Prestigegründen, die mit meinem Selbstverständnis nichts zu tun hatten. Ich machte sonst nie etwas bei mir zuhause. Wer vorbeikam, kam vorbei, wer nicht, der nicht. Sie wollte ihre Cousins aus Rumänien mitbringen, die zufällig auf Besuch waren. Die transsylvanischen Jungs, sozusagen. Nun, ich verstand die nicht, und die verstanden mich nicht. Bei der Lautstärke der Musik verstand ohnehin niemand den anderen. Aber sie hatten selbstgebrannten Schnaps dabei, von dem man anscheinend nicht auf Anhieb blind wurde. Und als ich davon genug hatte, versuchten wir es mit Armdrücken - wirklich! -, als Zeichen der Völkerverständigung, nehme ich an. Und ich verlor! Nicht zu glauben! Und da rannte ich hinüber zu dem Sperrmüllschreibtisch, riss die verklemmte unterste Schublade auf, holte den fünfschüssigen Revolver hervor und schrie sie und ihre Kusine an, dass sie sich gefälligst auf der Stelle zu verpissen hätten, bevor ich Amok liefe. Frau Krause von nebenan wummerte mit der Faust an die Wand, Passanten schauten von der Straße herüber durch die Fenster, es war August und heiß und Motörhead grummelte und krakeelte 'Locomotive', dass die Hosenbeine flatterten. Die Transsylvanier und Susanne starrten mich an, sahen dann betreten zu Boden und verließen schweigend die Wohnung in der Maybachstraße, gegenüber des Supermarktes und nur ein paar Meter vom Szenelokal Zum Elfer entfernt, mit der Bushaltestelle vor dem Fenster und dem protestantischen Friedhof im Rücken. In Frankfurt.
Die übrigen Gäste verließen nach und nach die Festivität, was weiß ich, wer noch da war. Ich hasste mich selbst. Ich hasste den Verrat, den ich an Anja begangen hatte und der nicht mehr gutzumachen war. Ich hatte nichts gewonnen – vielleicht war auch einfach nichts zu gewinnen -, eine Liebe verloren und Susanne war auch weg. Dieser Verrat, der das Böse in der Welt ist, und den keine Tränengaspatrone wird zerstreuen können. Der Betrug, die Scham und der Verlust. Ich hätte mir den Lauf in den Mund stecken und abdrücken mögen. Ich legte sogar auf Wodka an, der einzige, der geblieben war, doch sank ich nur betrunken und müde auf das rissige Linoleum des Bodens.

Der einbeinige Affe Gottes lacht und lacht und schreit und wiehert wild, seine Augen drehen sich nach innen, Hörner wachsen aus seiner geröteten Stirn, und dann starrt es mich an, durchdringend und roh. Und da weiß ich es: Dass dieser Verrat, an allem, was ich bis dahin an Jungfräulichkeit, Ehrbarkeit und Wahrhaftigkeit, an Integrität und Zuversicht gekannt hatte, dass dieser Verrat zu meinem Leben gehören wird, der Missbrauch der Liebe, der Betrug am Leben, an der Welt, an einem unbegreiflichen Gott, der Verrat vergangener und zukünftiger Träume. Der Verrat an mir selbst mit dem Lauf des Revolvers zwischen den Zähnen und dem Geschmack von Gas im Mund.
Ich stoße mit Wodka an, wir nehmen noch einen Schluck Mondschein; ich lege Metallica auf; dann schlafen wir ein, als die roten Strahlen über die Dächer blinken.


© Rainer M. Scholz

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