Der Mann und seine Blume

Innerer Monolog zum Thema Alleinsein

von  Muuuzi

Ich habe die Stunden vergessen, die nahtlos zu einem Fleckenteppich werden, während ich aus dem Fenster schaue und warte. Ein einzelner Tag birgt genug Erinnerungen, die den Rest des Verharrens auf Erden ausfüllen könnten, wenn man nicht mehr zum eigentlichen leben kommen sollte. Ich weiß das.

Die Pflanze, die sich aus dem Asphalt gezwungen hat, erblüht nun in einem saften Gelb, das mich erfreut. Die Sonne sehe ich kaum, da das Fenster zu tief unter der Erde liegt. Doch die Blume, die sich zäh den Asphaltmauern entgegengesetzt hat, leuchtet mir ebenso hell und vertraut wie die eigentliche Sonne, die wie eine Königin im Himmel thront. Manchmal beginne ich zu denken, dass das kleine Pflänzchen, das nicht weit von mir begonnen hat, sich zäh aus dem Boden zu quälen der eigentliche Mittelpunkt des Universums ist. Ich habe die restlichen Vorstellung an die Welt, und was da draußen sein kann, aufgegeben. Ich sehe nur sie, die zahme Blume, die für mich allein existiert. Wenn ich die Augen schließe oder mich vom Fenster abwende, muss ich an der Existenz meiner Blume zweifeln, da sie für jenen einen dunkeln Augenblick nicht da ist. Ich halte meine Augen deshalb solange wie möglich geöffnet. Ich will sie solange wie möglich erleben. Man weiß ja nie, wann sie verwelken wird. Es wird vermutlich nicht mehr allzu lange dauern bis der Herbst hereinbrechen wird und seine kalten Winde auf die zarten Blütenblätter hetzt, bis sie herabfallen wie Flüchtende, die dann in den Himmel wandern. Mir ist kalt, obwohl die Heizung ganz aufgedreht ist. Der Pullover, den ich von meiner Schwester bekommen habe, schützt mich nicht vor der Gänsehaut, die von innen zu kommen scheint.

Ich rauche meine Pfeife und denke an die echte Sonne. Wie sie wohl aussehen mag, wie sie wohl sein würde, wenn man ganz nah an sie herantritt?

Meine Tabakdose wird bald leer sein. Dann bekomme ich eine ganze Weile keinen. Er wird mir fehlen. Wann mich meine Schwester wieder besuchen wird, hängt von mir selbst ab. Ich habe sie gern, doch ich habe mich nie gut mit ihr verstanden. Ich bin der große Bruder, der in einem Kellerloch lebt und eine Blume anstarrt. Sie kocht mir manchmal etwas. Manchmal bringt sie mir etwas mit. Das hängt ganz von ihrer Stimmung ab. Viele Blumen am Tisch haben eine blaue Farbe, obwohl ich Blau nicht leiden kann. Ich glaube, sie hat sie mir gestern auf den Tisch gestellt, damit ich den Spätsommer noch etwas länger behalten kann.
Die Blumen passen gut zu den Vorhängen, die meine Frau vor vielen Jahren aufgehängt hat. Ich betrachte ihr Bild und finde, dass sie eine sehr schöne Frau gewesen war. Damals, als für mich die gelbe Blume noch nicht wichtig war, war sie meine Sonne. Sie konnte sehr gut nähen, häkeln und tanzen. Das weiß ich noch sehr gut.
Doch bin ich nu ein einsamer Mann, der schon sehr viele Dinge vergessen hat. Ich schreibe alles auf, doch vergesse ich, in diesen Notizen zu lesen. Ich denke, dass meine Frau gestorben ist. Ich finde sie in meinen Notizen kaum noch. Ich habe mir ein Bild der gelben Blume auf mein Nachttischen gestellt, auf dem steht:
„Schau aus dem Fenster. Da wirst du diese Blume sehen.“

Ich denke, ich sehe mir das Bild jeden Morgen an und ich erfreue mich immer wieder daran. Deshalb stehe ich morgens sehr bald auf, trinke schwarzen Kaffee, rauche meine Pfeife und sitze hier, manchmal den ganzen Tag lang. Ich glaube, dass mich bis auf meine Schwester keine anderen Menschen besuchen. Ich habe alle hinter mir gelassen, da es mit der Zeit immer anstrengender wurde, Namen und Erinnerungen zu behalten. Meinen Freunden wurde ich vermutlich zu anstrengend und unwichtig. Ich habe schon vergessen, was wahr- und was falsch ist. Ich habe den Anfang dieser Geschichte vergessen und werde wohl auch den Schluss bald nicht mehr wissen.
Auf wen oder was ich warte, ist mir ebenfalls entgangen.

Wichtig für mich ist nur mehr, dass jemand das Blumenbild von meinem Nachttisch entfernt, wenn sie verwelkt ist. Es würde mich sonst sehr traurig machen.

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