Weihnachten in der Hölle

Kurzgeschichte zum Thema Weihnachten

von  Sturmhexe


  Aufgeregt, etwas außer Atem und mit einem dicken Stapel bedruckter Blätter betrat Unterteufel 1342 aus der Buchhaltung (UT1342/B) das Büro der Bereichsdirektorin Europa (BD/E). Diese wandte den Blick ab von der exquisiten Panoramaaussicht auf das Fegefeuer, setzte ihre Teetasse ab und wies auf den Stuhl vor ihrem ausladenden Schreibtisch.

   „Nimm Platz! Du hast mir ausrichten lassen, dass die von dir und deinen Kollegen errechneten Zahlen auf eine katastrophale Entwicklung hinweisen. Was hat es damit auf sich?“

   UT1342/B legte den Papierstapel vor sich auf den Schreibtisch, rückte den Stuhl zurecht und setzte sich. Mehrfach öffnete er den Mund, räusperte sich, setzte erneut an und brachte schließlich heraus:

   „Also, alles was wir sagen können ist das: In Deutschland braut sich was zusammen, und alle unsere Erfahrungen aus den letzten tausend Jahren besagen eindeutig, dass wir in kürzester Zeit eine Riesenmenge Material an DIE DA OBEN verlieren werden. Und wir haben keine Vorstellung, wie wir das verhindern können.“

   Die BD/E schien nicht sonderlich alarmiert.

   „Bitte erklär mir das genauer. Was passiert da denn gerade und warum diese Alarmstimmung?“ 

   „In all unseren Unterlagen finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass das Material, wenn es schlechte Zeiten erlebt, sich der Religion zuwendet und uns verloren geht.“ UT1342/B wies auf die vor ihm liegenden Unterlagen. „Pest, Dreißigjähriger Krieg, Pockenepidemien, Weltkriege, und so weiter und so weiter… und immer wieder rennen sie in ihre Kirchen und bitten IHN um Hilfe. Und dann helfen sie einander und tun GUTES …“, er verzog bei dem Wort das Gesicht, „und sind dankbar für jedes kleine bisschen, und schon sind unsere Zahlen unten und DIE DA OBEN heimsen wieder Seelen ein.“

  Die Direktorin winkte ab.

   „Das brauchen wir nicht weiter auszubreiten, ist alles bekannt. Und wo genau seht ihr jetzt das große Problem in Deutschland?“

   „Naja, genau genommen sind die Zahlen in ganz Europa recht bedenklich, aber in Deutschland sind die Zahlen viel extremer als irgendwo anders … Angefangen hat das eigentlich mit dieser Flutkatastrophe im Sommer. Kaum stehen ein paar Dörfer unter Wasser, kommt alles gerannt und hilft und spendet und alles ist dankbar und, und…“

   UT1342 verhaspelte sich und fand vor Ekel keine Worte.

   „Und das macht euch Sorgen?“

   Er nickte. 

   Seine Chefin lachte kurz auf.

   „Da kann ich dich beruhigen, die Sache ist unter Kontrolle. Jetzt wo der Winter kommt, und ein großer Teil der Anwohner noch immer nicht in ihre Häuser können oder ohne Heizung in unfertig renovierten Ruinen sitzen, ist der Ärger über die mangelnde Hilfe so groß, dass selbst die Erinnerung an Dankbarkeit fast verschwunden ist. Wir haben die Erwartungen an die Politik und die Hilfsorganisationen so geschürt, dass es nur Enttäuschung geben konnte. Alles läuft nach Plan“

   „Und all die Helfer? All die, die gespendet haben? All diese Punkte, die sie DORT OBEN gemacht haben? Das sind doch auch gewaltige Verluste für uns!“

   Die Direktorin schüttelt den Kopf.

„Keine Sorge, auch darum haben wir uns gekümmert. Überall in den Social Medias kannst du lesen, wie darüber gelästert wird, dass die Helfer so unorganisiert waren, dass Freiwillige abgewiesen wurden, dass Sachspenden nicht gewollt wurden, obwohl sie doch so dringend vor Ort gebraucht wurden. Es wird erzählt, dass sich Hilfsorganisationen bereichert haben, dass die Führung unfähig war, der Staat versagt hat und dass so vielen Menschen überhaupt nicht geholfen wurde. Manche fragen, wo das Geld geblieben ist, dass bei Spendenaufrufen gesammelt wurde. Du glaubst nicht, was für Streitereien dadurch entstanden sind, wieviel herrlich schlechte Gefühle. Es gibt sogar etliche, denen es leid tut, überhaupt geholfen zu haben! Wie du sehen kannst, ist das Klima so vergiftet, dass von den ganzen guten Gefühlen nichts mehr übrig ist. Und mit all dem Streit haben sie genug Credits bei uns gesammelt. Sonst noch etwas?“

   Die Miene von Unterteufel 1342/B hatte sich bei den Ausführungen seiner Chefin etwas aufgehellt, doch jetzt schlich sich wieder dieser Hauch von Panik ein.

   „Naja, diese Pandemie, jetzt mit der vierten Welle und den Varianten macht uns wirklich Sorgen. Dem Material dort geht es momentan wirklich schlecht. Überall demonstrieren sie gegen die Diktatur, überall beklagen sie sich, wie schlecht es ihnen geht, was sie alles vermissen, dass sie unterdrückt und verfolgt werden, dass sie aus Furcht kaum noch das Haus verlassen mögen.  – Alles Signale, die wir von früheren Ereignissen kennen. Und dann steht jetzt noch WEIHNACHTEN vor der Tür. Da werden die Kirchen dann wieder brechend voll …“

   „Moooment“, unterbrach die BD/E ihn, „wie kommt ihr darauf, dass wir hier eine Situation haben, die mit denen vergleichbar ist, die du gerade aufgezählt hast?“

   UT1342/B sah seine Chefin verstört an. 

   „Aber, aber … diese Pandemie, all die Toten, all das Leid, all der Verzicht, all das Elend. Das ist doch genau wie bei der Pest und den Kriegen, oder etwa nicht?“

   Die BD/E sah ihren Untergebenen fast etwas mitleidig an, wenn sie denn Mitleid hätte empfinden können.

   „Du übersiehst etwas Entscheidendes: Bei all den früheren Katastrophen haben sie alles verloren, buchstäblich alles. Und bei den Epidemien sind ganze Familien dahingerafft worden, manchmal wurden die Häuser mit den Toten drin verbrannt. Hast du die aktuelle Situation des Materials tatsächlich einmal genau betrachtet? Die Krankheit stellt tatsächlich eine Gefahr dar, bisweilen auch eine tödliche. Aber sonst? Die haben ALLES, wirklich ALLES. Ein Dach über dem Kopf, zu Essen, Kommunikations-möglichkeiten, einen ziemlich gut wirkenden Impfstoff.  Es fliegen ihnen keine Bomben um die Ohren, sie werden nicht vergewaltigt, ermordet oder anderweitig bedroht. Alles, was wir machen mussten, ist Zwietracht säen, Egoismus bestärken und ihren Blick von dem, was sie haben, auf das, was ihnen derzeit vorenthalten ist, lenken. Sie glauben, es ginge ihnen so schlecht, wie es verfolgten Menschen in der Vergangenheit ging, und ihre Lage sei so schlimm wie nie zuvor. Aber da sie letztendlich alles haben, was sie brauchen, werden sie niemals so verzweifelt sein, dass sie sich DEM DA OBEN zuwenden. Mach dir da also keinen Kopf, wir haben hier eine völlig neue Situation – und wir haben sie unter Kontrolle. Genau gesagt, wir werden noch viel Spaß daran haben, wenn sie sich so richtig an die Kehle gehen mit ihren Streitereien und Schuldzuweisungen. Da ist noch so viel Potential!“

   UT1342/B wirkte jetzt schon fast entspannt. Trotzdem fragte er:

   „Und wie sieht es mit Weihnachten aus? Die Kontobewegungen in Deutschland zeigen deutlich, wie viel Geld für Geschenke ausgegeben wird. Da werden mal wieder alle Rekorde gebrochen! Und dann freut sich wieder alles, und man bedankt sich und ist NETT zueinander, und man geht in die Kirche, und dann heißt es wieder „douze points“ für DIE DA OBEN.“

   „Ganz ruhig, Kollege, so schlimm wird das auch wieder nicht! Erst einmal hat unser gutes Material dafür gesorgt, dass über Weihnachten wieder viele Einschränkungen gelten werden, und diese Einschränkungen werden für einiges an Ärger sorgen. Die vielen Geschenke sind fast alle online gekauft, der Einzelhandel wird sich bitter beklagen, dass man ihn in den Ruin treibt, die Beschenkten werden feststellen, dass die günstige Ware, die im Internet gekauft wurde, oft minderwertig und nicht das ist, was man sich gewünscht hat. Tja, und dann werden die Leute feststellen, dass sie wieder einmal für Silvester kein Feuerwerk kaufen dürfen, und sich schwarzärgern. Weihnachten ist glücklicherweise nicht mehr das, was es einmal war. Wenn die Menschen vergessen, was es bedeutet, brauchen wir es auch nicht mehr zu fürchten.“

   Sie blickte UT1342/B lächelnd an.

   „Bist du jetzt beruhigt?“

   Er nickte und erhob sich.

   „Tut mir leid, dass ich Eure Zeit verschwendet habe. Ich werde das an die Kollegen weitergeben, und wir werden die Zahlen anpassen und neu berechnen.“

   Die BD/E winkte ihn hinaus und griff nach ihrer Teetasse. Ihr Blick glitt hinüber zum glänzend geschmückten Weihnachtsbaum, sie lächelte leise, und mit einem Fingerschnippen ließ sie die Flammen der Kerzen etwas heller leuchten.

  



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