Geranium

Tagebuch zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Pearl

Eine Welt voller Wunder ist die Kinderzeit. Geranien blühten im Frühling auf unserem Balkon. Momo verstand ich damals noch nicht. Denn wie Cassiopeia hatte ich ewig Zeit. Lesen, spielen, zeichnen. Schule machte noch Spaß, manchmal jedenfalls. Mein Teddybär (Nicki), meine Puppe (Theresa), meine Schwester, unsere Mutter, unser Vater. So viel Wärme im kleinen Herzen. Die vielen Freunde. Mein erster Abschiedsschmerz, als Daniela, mit der ich am Meer Geheimnisse und Abenteuer teilte, abreiste. Schlittenfahrten auf der Wiese, auf der heute Häuser stehen. Die heiße Limonade, die unsere Mutter für Susanne, Katharina und mich danach zubereitete.
Der Stolz auf die erste größere Narbe nach einem schlimmen Fahrradunfall. Wir saßen zu dritt auf dem Rad und waren nachher die Stars der Schule. Joggen im Wald mit Tata. Mama las uns in der Adventszeit die schönen Märchen von Lindgren, Andersen und vielen anderen Erzählern vor. Ich sprach mit den Blumen, damit sie schön wachsen. So wie es die Hexe im Kinderbuch tat, die alleine lebte und wie die ich einmal werden wollte. Nachts Schritte von Geistern auf den Treppen hören. Eine kalte Hand, die die meine ergreift. Also: schlafen umkreist und geschützt von meinen Kuscheltieren. Mein Begleiter, ein Zwerg, der für die Anderen unsichtbar war und verschwand, als ich ihnen von ihm erzählte.
Im Fasching verkleidete ich mich als Anna, die Schwester vom kleinen Vampir. Genau wie Katharina. Mit ihr Wolken betrachten. Wer hat mehr Phantasie? Wer liest mehr? Wer hat mehr Kopfschmerzen? In der Kirche kicherten wir, bis uns der Pfarrer an den Ohren nahm. Und ich war eifersüchtig auf ihre Brille, die rosarote mit dem kleinen Schmetterling. Auf jeden Gips der anderen Kinder, auf dem wir bunt unterschrieben. Auf ihre Zahnspangen. Und natürlich auf Susannes unsichtbare Freundin Malaika und auf eine Plastiktasche, die sie als ihre neue Schwester ausgab, wenn ich am Strand lieber las und faulenzte, als mit ihr zu spielen. Meine Neugierde, als mein Cousin an Weihnachten das Christkind sah. War es schön? Das Glöckchen, das läutete und wir durften ins Wohnzimmer, Geschenke auspacken. Die Enttäuschung und der Zorn, als Ariane mir sagte, dass es den Nikolaus, das Christkind und die Zahnfee nicht gibt. Meine Eltern haben mich angelogen. Und doch

war da schon ein bisschen Traurigkeit, Melancholie. Ein leises Ahnen, dass die Zeit nicht still bleibt, ich nicht ewig die Ballerina im pinken Tütü bleiben konnte, das mir Mama und Nandl an meinem sechsten Geburtstag nähten. Immer war da das Wissen, dass der Tod oder eine Krankheit mir all das eines Tages wegnehmen werden.



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Kommentare zu diesem Text


 Hobbes (23.07.22, 17:49)
Guten Tag Pearl,

sehr, sehr authentischer Text, mit Biss und Herz - Weh!

Ohne zu Lügen. Er pakkt hier jeden!

Bester Gruß

Peter

 Pearl meinte dazu am 24.07.22 um 04:17:
Danke, Peter!

So habe ich die phantasievolle Zeit der Kindheit erlebt, ja.

Gute Nacht!

Pearl

 Hobbes antwortete darauf am 24.07.22 um 08:05:
Guten Tag Pearl,

war wirklich sehr schön!

Gruß

Peter
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