Von Sebastian

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von  beneelim

Sebastian war das einzige Kind von Elvira und Ernst. Gebürtig in Graz, einige Jahre, nachdem Elvira von Meran der Liebe wegen dorthin gezogen war. Noch vor der Jahrtausendwende und als Überraschung empfangen, erlaubten sich seine Eltern ein redliches Maß an Zuversicht. Das war etwas, das in dieser Zeit selbst die Glücklosesten erlangen konnten.

Die Mutter war schon in ihrer frühen Jugend der Trinksucht verfallen und sie hatte bei all ihren Entwöhnungen zumindest jenes gelernt, dass sie dieses Leiden schubweise und gesittet, ohne Aufsehen, erdulden musste, und die Schwangerschaft hindurch war sie überhaupt trocken geblieben. Der Gatte und Vater und auch einige Freunde hatten Hoffnung auf eine anhaltende Abstinenz. In Liebe wie im Tod und in all den schlechten Tagen.


Am ersten Geburtstag des Sohnes nun war es Elvira als angemessen erschienen, ihre Mutterschaft mit einer „Party für Eineinhalb“ zu würdigen. Ernst würde erst in zwei Tagen von einer Dienstreise zurückkehren und Nachbarn gab es keine – zumindest nicht in einem so vertrauten Sinne, dass Elvira sie zu sich nach Hause hätte einladen wollen. Zum Geburtstagsfest ihres Sohnes, der ihre Erlösung und ewige Schuld war.

In der blickdichten Einkaufstasche verborgen, trug sie also am frühen Morgen schon Wodka und Wein aus dem Supermarkt. Man konnte kaum behaupten, sie hätte nicht gewusst, was sie tat. Sie lief mehr, als dass sie ging, je näher sie ihrem Haus kam, und die Fröhlichkeit wirkte ihr leichte Sohlen und einen Herzschlag, der sprang und gegen ihre Brust klopfte.

Der Tag würde gut werden, er war es jetzt bereits. Sebastian war ein Schläfer, die Fleisch gewordene Seligkeit, er würde keine Mühe machen. Noch nicht. Doch wie hätte sie das damals schon wissen können? Letztlich sprach nichts dagegen, sich eine kleine Freude zu leisten.

Der Sohn, friedlich, geborgen, anspruchslos. Es schien Elvira die beste Zeit, ihrer hartnäckigen Pflicht zu folgen, welche Glück und Pein in beinahe selbem Maße brachte. Beinahe. Weswegen die Pflicht wohl nicht vergehen wollte, und so soff sie sich nun schon für Jahrzehnte durchs Leben, das wüst und leer unter ihren Füßen hinweg zog. Ein Kind schlief daheim und sie bekam Angst. Selbst, wenn er sich noch so ruhig verhielt: sie musste auf ihn achten, musste von ihm berichten: bei Verwandten, Freunden und Nachbarn, derer es zwar wenige, aber dennoch zu viele gab, und sie sah sich immer mehr zu jener blicklosen und friedlich grinsenden Mutterfigur verwandelt, die sie nie hatte sein wollen. Die Momente, da Elvira ihrem Sohn nicht die Schuld an diesem harten Joch geben wollte, sie wurden immer weniger. Und die übrige Zeit verzweifelte sie über ihre hilflose Selbstsucht.

Doch an diesem Geburtstag sollte die Waage ins Lot finden, die Dämme würden bersten. Sie hoffte darauf, und nachdem sie Sebastian versorgt und für seinen Nachmittagsschlaf gerichtet hatte, köpfte sie die Grey Goose Flasche und nahm ihren ersten Wodka on Ice um 12 Uhr 47 Minuten. 


13 Uhr und 4 Minuten. Sprengung Stufe 1, Kurs stabil.


13 Uhr 51 Minuten. Sprengung Stufe 2, Kurs stabil. Grey Goose leer.


15 Uhr 11 Minuten. Sprengung Stufe 3, Zündung Kapselantrieb, Kurs stabil. Bordeaux-Mond, anwachsend. Kind seufzt einige Male, schläft weiter. Neun Anrufe in Abwesenheit.


16 Uhr, 3 Minuten. Anflug Mond. Schillernder Mond, Mokka. Ein Gestirn aus Salz, ihre Füße versinken, als sie aus der Kapsel tritt. In eine Nacht, in das grundlegende Dunkel, den Samt der Geschichte. Sie geht, setzt Schritt auf Schritt, versinkt.


17 Uhr 41 Minuten. Elvira erwacht. Etwas lärmt, etwas sticht durch den Schlummer. Papierklauenbaby, ein berstender Uterus. Blut, der Boden, ihre Füße zucken, sie führt schwerfällig die Hand an ihre Stirn. Die andere tastet noch ziellos, spürt Nässe ringsum.

Sebastian schreit, hustet, Lichtjahre und drei Schritte von ihr entfernt. Elvira erinnert sich dunkel: Das Gitterbett war ein Stück in Richtung Verandatüre gehüpft. Wie der Pfeil am Ouija-Brett, ruckartig, am Haken einer umtriebigen Macht. Worte in der Dunkelheit.

Das Flüstern tropfte herab, der Absinth des Teufels, sie trank. Ein tiefer Schluck von Beinahe-Gefühl, von unzählbarem Vielleicht. Wo war das Kind? Ihr Kind. Hätte sie nur gesehen, wie der Schatten den Sohn über die Schwelle trug, in die Eiswüste entführte, zur Taufe unter der Sonne Saturns. Sie hätte geklagt, bitterlich, hätte ihre Arme ausgestreckt nach dem verhassten Balg, das sie liebte und das ihr die Sprache geraubt hatte, hätte Reue gezeigt und die Buße unterlassen.


Doch so.


Blieb alles ein Traum.


Ein Rausch.


Elvira sammelt sich nach und nach vom Boden auf, als sie zu erinnern versucht, wie man aus der Asche heraus ein Feuer zu erinnern trachtet. Und Sebastian. Sie steigt neben das Gitterbett, nimmt vorsichtig den Kleinen unter seinen Armbeugen. Hebt ihn zu sich und riecht auf halber Höhe schon, was ihn so vehement um Zuwendung hatte brüllen lassen. 

Als sie sich auf den Weg ins Badezimmer macht, als sie noch immer nicht ihre blutigen Hände, ihren befleckten Sohn, ihr uringetränktes Kleid wahrnimmt, klopft es energisch an der Türe.

„Polizei.“

Polizei. 

Dann sieht sie an sich hinab.



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