Schreie

Kurzprosa

von  BeBa

Die Schreie in der Nacht sind furchtbar. Immer zur selben Zeit, man kann die Uhr danach stellen. In den ersten Nächten haben sie mich aufgeschreckt, ganz kurz nach Mitternacht für ein paar Minuten, danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich hörte die Schreie, ohne zu wissen, woher sie kamen. Nach ein paar Tagen bin ich gar nicht mehr eingeschlafen. Die Erwartung, dass es gleich wieder losgeht, hat mich wach gehalten. Und tatsächlich, die Kirchturmuhr hatte gerade zur Mitternacht geschlagen, das schrie es wieder.


Kein menschlicher Schrei, eher ein tierischer. Vielleicht ein Vogel, aber welcher Vogel meldet sich so laut in der Nacht? Oder eine Katze, ein wildes Tier, ein einsamer Wolf, ein Hirsch in der Brunft?


Ein paar Tage ging das so, und ich schlief so gut wie gar nicht. Dann beschäftigten sich meine Gedanken auch tagsüber mit diesem Rätsel. Bei der Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Prompt machte ich Fehler und erhielt eine Abmahnung von meinem Chef. Ich versuchte gar nicht, ihm meine Situation zu erklären.

Stattdessen ging ich zum Hausarzt, dem ich mich anvertraute. Er nickte ein paar Mal, ohne mich anzuschauen, Fragen zu stellen oder mich genauer zu untersuchen. Abspannen müsse ich, meinte er, schrieb mich gleich für zwei Wochen krank und empfahl Baldrian.

Der Schrei verfolgte mich trotzdem weiter, bis vor drei Tagen. Ich hatte eine Recorder-App aufs Smartphone geladen und den Entschluss gefasst, der Sache endgültig auf den Grund zu gehen, solange ich noch krankgeschrieben war. Ich blieb die ganze Nacht über hellwach, immer bereit, den Schrei mit meinem Smartphone aufzunehmen. Doch der Schrei blieb aus, zum ersten Mal seit Wochen, und das auch in den folgenden Tagen. Alles blieb ruhig, aber ich lag weiterhin auf der Lauer.


Nach mehreren Nächten ohne Schreie überkam mich große Müdigkeit. Ich wollte endlich ungestört schlafen und legte mich am Mittag zu einem kleinen Nickerchen auf mein Sofa. Und dann ...


... war der Schrei wieder da, und das mitten am Tag. Ich startete die Recorder-App auf dem Smartphone. Und stoppte sie wieder, als ich nichts mehr hörte.

Geschafft, meinte ich und schloss die Augen. Danach verschlief ich prompt meinen Dienstbeginn im Büro.

 

Verspätet komme ich gegen Mittag ins Büro und der Chef stellt mich sofort zur Rede. Da nehme ich entschuldigend mein Smartphone aus der Tasche und starte die Aufnahme: Alles, was man darauf hört, ist mein Schnarchen.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Daniel (50)
(02.04.23, 03:35)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 BeBa meinte dazu am 11.04.23 um 21:04:
Danke dir, Daniel. Auch für die Tipps zu den eingebauten Fehlern.

LG
BeBa

 AlmaMarieSchneider (02.04.23, 19:39)
Oh, Oh, immer erst mal selbst anhören.  :( Was für ein blöder Chef!

Lachend grüßt
Alma Marie

 BeBa antwortete darauf am 11.04.23 um 21:05:
Sag ich doch!

Danke dir, Alma Marie.

LG aus Prag
BeBa
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram