Die Begegnung

Kurzprosa

von  BeBa

Es ist die Stadt, in der mein Vater seine Kindheit verbracht hatte. Leider waren außer ein paar Straßennamen nicht viele Anhaltspunkte geblieben. Ich bin heute älter, als er jemals geworden ist. Ob Zufall oder Fügung, es verschlug mich jetzt für zwei Tage genau in diese Stadt.

Nach dem Abendessen im Hotel fand ich eine gemütliche Kneipe. Ein idealer Ort, um den Tag in Ruhe ausklingen zu lassen. Keine Ahnung, wie lange ich bei Bier und Becherovka an der Theke saß. So entspannt, dass ich nicht einmal mitbekam, wie sich mein Thekennachbar neben mich setzte. Ich hatte den Alkohol und mit der Welt ansonsten heute nichts mehr im Sinn.
Erst als der Nebenmann vor sich hin murmelte, nahm ich ihn und seine Worte wahr, immer wieder wie ein Mantra:
„Es ist Zeit!“ Damit holte er mich in die Wirklichkeit zurück. Er stand auf und drehte sich zum Ausgang. Ob er seine Zeche gezahlt hatte, weiß ich nicht. Noch einmal wendete sich der Fremde um und ich las von seinen Lippen das erneute „Es ist Zeit!“.
Ich legte dem Wirt einen Geldschein auf den Tresen, stand auf und folgte diesem Fremden.

Der Mann bewegte sich schleppend vorwärts. Mir war damals (und das spüre ich heute wieder), als erinnerte mich seine ganze Erscheinung an irgendetwas. Wäre ich solch einer Person sonst gefolgt?
Wir liefen lange geradeaus. Es fuhren kaum Autos und nur ab und zu kam uns ein Fußgänger entgegen. Dann bog der Fremde nach rechts ab, öffnete ein quietschendes Stahltor und hielt es wortlos offen. Ich schloss das Tor leise hinter mir. Bei diesem Ort dachte ich zunächst an eine Parkanlage. Wir liefen über schmale Wege, die von einzelnen Laternen spärlich erleuchtet wurden. Nach einigen Augenblicken wurde klar, dass das, was ich für Blumenbeete gehalten hatte, in Wahrheit Gräber waren. Dann blieb der Fremde vor einem alten Grabstein stehen. Mir war, ich würde darauf meinen Familiennamen lesen, doch wegen der Verwitterung des Steins war ich mir nicht sicher.
In diesem Augenblick schlug eine Kirchturmuhr Mitternacht. Der Fremde zeigte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Mein Blick folgte seinem Finger, aber ich  hörte nur das Glockenläuten und sah nichts außer dem beleuchteten Weg, den wir gekommen waren. Als ich mich wieder umschaute, war der Mann verschwunden.
Zunächst stand ich hilflos da. Doch dann, woher immer diese Eingebung kam, verließ ich den Friedhof, kehrte zurück ins Hotel und fiel erschöpft aufs Bett, fand aber trotzdem lange keinen Schlaf.

Am nächsten Morgen kam mir beim Erwachen die nächtliche Begegnung wie ein nebulöser Traum vor. Um auf andere Gedanken zu kommen und Nerven für die anstehenden Termine zu haben, bat ich die Serviererin um eine Zeitung. Lächelnd reichte sie mir zu Kaffee, Brötchen und Ei die bekannte Stadtzeitung. Im Alltag genügen für die Nachrichten Smartphone und Laptop, aber bei einem Hotelfrühstück liebe ich das abwechselnde Schlürfen von heißem Kaffee und dem raschelnden Umblättern einer Zeitung. Ich hatte den Bodensatz der Kaffeetasse erreicht, als ich, auf einer der letzten Seiten, auf eine Anzeige stieß: die Todesanzeige meines Vaters. Der schon längst tot war! Und gestorben ist er nicht dieser Stadt, sondern hunderte Kilometer von hier, in unserer Heimat.
Jetzt, als ich nichts mehr verstand, mischte sich zu dieser unmöglichen Todesanzeige das beinahe verdrängte Erlebnis auf dem Friedhof. So viele Bilder und Gedanken auf einmal: Traum oder Realität? Ist am Ende alles eins?
„Geht es Ihnen nicht gut?“
„Ich weiß nicht...“
„Was sagen Sie? Trinken Sie!“
Aus dem Nichts hielt mir die verschreckte Serviererin ein Glas hin. Ich trank kaltes Wasser, stand auf und ging, lief die Straße entlang. Immer geradeaus oder nicht, keine Ahnung.
Irgendwann war ich da: allein auf diesem Friedhof. So viele Gräber! Doch nicht eins mit unserem Namen.
Die Dame bei der Friedhofsverwaltung war hilfsbereit und sie suchte auf ihrem PC, holte sogar uralte Aktenordner hervor. Aber unser Familienname war auf diesem Friedhof niemals und nirgendwo eingetragen worden.

Als ich ins Hotel zurückkehrte, hatte die nette Serviererin schon Feierabend.
Ich stornierte die weiteren gebuchten Nächte und sagte alle Termine in der Stadt ab. In beiden Fällen schob ich gesundheitliche Probleme vor.

Bei der Abreise am nächsten Morgen wartete ich im Foyer auf ein Taxi, als mir ein Exemplar der Tageszeitung von gestern auf einem der Tische auffiel. In Hoffnung griff ich nach ihr: Eine Todesanzeige für meinen Vater gab es darin nicht.

Das Taxi hielt. Der Fahrer verstaute das Gepäck im Kofferraum und ich setzte mich auf den Rücksitz.
Wir fuhren ab. Ich schaute nach vorn. Und träumte von einem alten Mann, der mir die Richtung zum Ausgang des Friedhofs zeigt.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (12.04.23, 09:49)
Zum Schluss etwas zu hastig runtererzählt.

Ist Haruki Murakami-Style, nicht wahr?
kipper (34) meinte dazu am 12.04.23 um 10:44:
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 BeBa antwortete darauf am 12.04.23 um 20:35:
@Dieter,
ob es ein wenig wie Murakami ist, weiß ich nicht. Aber er ist in jedem Falle einer meiner Lieblingsautoren. 
Danke dir für deinen Kommentar.

@Kipper,
danke auch dir. In der Tat spielen im Text zum Teil die Zeiten verrückt. Ja, da muss ich noch mal ran.

Die Nachsuche, das war auch schon mein Gedanke, könnte etwas präziser und länger sein. Und ich meine, Dieters "hastig" auch ebenso verstanden zu haben.

Mal schauen, was ich aus dem Text noch herausholen kann.

LG aus Prag,
BeBa
kipper (34) schrieb daraufhin am 12.04.23 um 21:13:
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 BeBa äußerte darauf am 16.04.23 um 01:49:
Ich habe den Text ein wenig überarbeitet und versucht, die Anregungen der Kommentare und Kritiken zu berücksichtigen.

LG
BeBa
kipper (34) ergänzte dazu am 16.04.23 um 10:33:
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 BeBa meinte dazu am 19.04.23 um 00:04:
Hi kipper,

mit den Zeitenfolgen habe ich immer so meine Probleme, aber ich bin dankbar für jeden Hinweise und werde es  mir noch einmal anschauen.

Was das Ende des Textes anbelangt: Hier werde ich nichts mehr einfügen. Du schreibst ja selbst, dass der Leser auf diese "Plausibleste Erklärung" zuerst kommt. Warum deshalb noch weiter aufdröseln? 

Ich finde, der Leser wird sich seine eigene Meinung machen, und das ist die Richtige für ihn. 

Da der Text recht einfach zu verstehen ist (zumindest oberflächlich), sehe ich keinen Grund, hier noch ausführlicher zu werden. 

LG
BeBa
kipper (34) meinte dazu am 19.04.23 um 09:57:
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