Die Meditationen des Herrn Rost (Anfang)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Du“, fragte der kleine Schüler, „kannst du mir helfen?“

Überrascht blickte Herr Rost auf den kleinen Menschen hinunter, der mit dieser Frage den Beginn seiner Mittagspause verzögerte. Mehr als alles andere mochte er Routinen, hatte bereits Jacke und Schal angelegt und mit schnellem Schritt das Lehrerzimmer verlassen, denn zu dieser Tageszeit entschieden Minuten darüber, ob man ganz vorne oder hinten in einer der Schlangen vor den Cafés und Restaurants stand.

Worum geht es denn?“, fragte er ausweichend zurück und trat ein Stück beiseite, um den Kollegen Platz zu machen, die nun bereits an ihm vorbei in ihre Mittagspause schritten. Jetzt erst betrachtete er den Jungen genauer, der ihn da so formlos angesprochen hatte.

Es schien so, als habe er gerade geweint, die Augen hatten diesen verzweifelten Glanz, den Kinderaugen schnell bekommen, wenn kleine Geschehnisse ihre Überzeugungen erschüttern. Wahrscheinlich hatte er eine schlechte Klassenarbeit geschrieben oder jemand hatte ihn geärgert.

Dennoch ging er hinunter in die Hocke, um dem Kind ins Gesicht zu schauen.

Ihre Blicke begegneten sich.

Armer kleiner Junge“, dachte er, „irgendetwas stimmt nicht mit dir.“

Ich habe Angst“, sagte der Junge und sprach so leise, dass er noch näher an ihn heranrücken musste, um etwas zu verstehen, „und ich weiß nicht...“

In diesem Moment gab es einen lauten Knall, der Herrn Rost so erschrak, dass er fast auf die Seite gefallen wäre, dann: ein lautes Geschrei. Ein Schüler war auf ein Trinkpäckchen gesprungen und da dieses nicht vollständig leer gewesen war, war der verbliebene Inhalt in Richtung einer Mädchengruppe gespritzt, die nun – erschrocken und verärgert – den Schüler beschimpfte.

Warte mal kurz“, sagte Herr Rost zu dem kleinen Jungen und ging hinüber zu der Mädchengruppe.

Ihr könnt hier nicht so rumschreien“, sagte er zu den Mädchen und versuchte dabei seine Stimme möglichst vorwurfsvoll klingen zu lassen.

Aber der hat doch angefangen“, rief eines der Mädchen und wies auf den Jungen, der gerade die Gelegenheit nutzen wollte, um zu verschwinden.

Du kannst doch nicht einfach auf ein Trinkpäckchen springen“, sagte Herr Rost zu dem Jungen und versuchte dabei noch vorwurfsvoller zu klingen als zuvor.

Ich war das nicht“, antwortete der Schüler,

er war das doch“, schallte es aus der Mädchengruppe zurück, die sich unbemerkt herangeschoben hatte, „er hat es mit Absicht gemacht“, ergänzte eine Schülerin, „deswegen ist es noch viel schlimmer.“

Ich habe gesehen, dass du es warst“, log Herr Rost und entschied damit den Konflikt.

Es tut mir leid“, sagte der Schüler.

Es tut ihm leid“, gab Herr Rost an die Mädchengruppe weiter und als er sich wieder umdrehte, war der Unruhestifter unbemerkt verschwunden.

Auch wenn er nicht restlos zufrieden mit seiner pädagogischen Intervention war, schien sich die Situation aufgelöst zu haben. Die Mädchengruppe hatte das Interesse verloren und war wieder mit ihren Smartphones beschäftigt. Ein Sturm im Wasserglas.

Dann fiel ihm der kleine Junge wieder ein, der kleine Junge mit den traurigen Augen.

Er wandte sich zum Eingang des Lehrerzimmers um, doch da war niemand mehr.

Nur ein paar ältere Schüler und weil er ihm hauptsächlich ins Gesicht geblickt hatte, konnte er auch gar nicht mehr sagen, wie er genau ausgesehen hatte, lange, kurze Haare, Farbe der Jacke, es war ein kleiner Schüler gewesen, ein Fünft- oder ein Sechstklässler.

Ein letztes Mal blickte er sich suchend um, dann – endlich – verließ er das Schulgebäude.


*


Es ist ein schöner Tag“, dachte er, als er auf die Straße trat und die frische Luft tief einatmete. Schulen hatten so einen Geruch, in dem sich viele verschiedene Dinge zu einem zähen Dunst vermischten, den man erst bemerkte, wenn man – an anderen Orten – wieder freier atmen konnte. Es war angenehm kalt, der Himmel wolkenfrei, so dass man gleichzeitig die kalte Luft atmen und die warme Sonne auf der Haut spüren konnte. Es war auch noch gar nicht so spät, wie er gedacht hatte und so beschleunigte er seine Schritte in Richtung des Cafés, das er aus verschiedenen Gründen bevorzugte und als er schließlich um die Ecke bog, sah er, dass die Schlange vor dem Eingang viel kürzer war, als er befürchtet hatte. Dann sah er erneut den kleinen Jungen, der ihn angesprochen hatte, schon ein gutes Stück weiter, die Straße hinauf in Richtung von Brücke und Straßenbahnhaltestelle. Jetzt erinnerte er sich, dass die Jacke blau und die Kapuze grün gewesen war, doch es war der Gang des Kindes, der ihm aufgefallen war, diese gekrümmte, gebeugte Haltung, so als würde das Gewicht der ganzen Welt auf seinen schmächtigen Schultern ruhen. So langsam ging er, als würde er sich vor seinem Ziel fürchten.

Herr Rost bremste seine Schritte ab und erreichte das Café, zögerte noch einmal und blieb dann am Ende der Schlange stehen. Der Junge hätte ja durchaus auch fünf Minuten warten können, dann hätte er sich trotz seines verbrieften Rechts auf eine Pause wohl noch mit dessen kleinen Problemen auseinandergesetzt, aber er war ja einfach gegangen.

Er blickte durch das Fenster in das Café hinein und sah, dass an diesem Tag die junge Frau arbeitete, die er im Geheimen attraktiv fand. Sie erinnerte ihn an eine Freundin aus seiner eigenen Schulzeit, die er damals – ebenfalls im Geheimen – so viel lieber gemocht hatte als sie ihn. Deswegen kaufte er nun schon seit Monaten seinen Kaffee genau an diesem Ort. Manchmal machte er kleine Scherze, weil er sie so gerne lachen sah.

Die Schlange schob sich nach vorne, er betrat das Café, fühlte die Wärme des Ortes auf seinen Wangen und vergaß den kleinen Jungen, der immer weiter der Straße folgte. Dieser aber bog um eine Ecke und erreichte schließlich die Stelle, an der die Straßenbahnhaltestelle die Autobahn überspannte, warf seinen schweren Tornister auf den Boden und kletterte wie befreit auf das Geländer. Dort stand er eine Weile, bewegte die Arme, um das Gleichgewicht zu halten,

balancierte schließlich vorsichtig zur Mitte,

blickte sich suchend um, blickte hinab auf die vielen Autos,

die unter ihm durch die Unterführung schossen,

dann breitete er die Arme aus

und sprang in den Tod.



Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der Philosophielehrer Herr Rost führt ein recht angepasstes und routiniertes Leben, bis ein plötzliches Ereignis seinen gewohnten Alltag durcheinanderbringt. Der Suizid eines kleinen Schülers, der ihn noch kurz zuvor um Hilfe gebeten hatte, stürzt ihn in eine existentielle Krise, aus der er sich schreibend zu befreien versucht. Die (sechs) Meditationen, die er im Verlauf der Handlung verfasst, sind ein Versuch, das eigene Bewusstsein, die Welt, die ihn umgibt, sowie die eigene wilde Traurigkeit zu verstehen, die seit dem Ereignis auf alles hinabgesunken ist. Herr Rost beginnt sein Leben zu hinterfragen und findet dabei immer mehr über sich selbst heraus, bis sich auf einmal alles verändert.

Die vollständige Erzählung ist für 16,90 Euro beim athena-Verlag erhältlich.
https://athena-verlag.de/buecher/erzaehlungen/die-meditationen-des-herrn-rost/

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