Vergruppte Selbststigmatisierung

Text

von  Lilo

Es war so kalt, dass mir die Luft beim Atmen im Hals schmerzte, aber die Sonne schien. Enno und ich schlitterten vorsichtig über die ungestreuten Gehwege. Er hatte Ausgang bis zum nächsten Morgen. Nur noch ein Meeting, dann hätten wir Zeit für uns. Ich hatte im Café warten wollen, aber die Gegend, in der das NA-Meeting stattfand, war ungemütlich und ich spürte, dass Enno mich dabeihaben wollte. „Warum auch nicht?“, dachte ich, „schaue ich mir in der Wirklichkeit an, was ich seit Jahren schon aus amerikanischen Serien kenne“. In der Wirklichkeit war es schlimmer: der Ritualisierungsgrad höher, sektengleich und phrasenreich, und ohne die ganzen anderen Szenen, die es in den Serien schließlich auch noch gibt, wirkten die Menschen fahl, so selbstreduziert auf ihren Drogenkonsum. Der Reihe nach leierten sie irgendwelche Artikel herunter, dann erzählten sie etwas von sich, dazu lief eine Stoppuhr. Jeder Redebeitrag wurde mit „Name, süchtig“ eingeleitet. Jeder. Wenn einer fünfmal was sagte, sagte er auch fünfmal seinen Namen mit dem Eigenschaftszusatz süchtig. Der Chor murmelte danke. Ich dachte bei mir, dass mir die ritualisierten Fürbitten in der Kirche besser gefielen. Immerhin waren die ästhetisch ritualisiert, in einem zauberischen Singsang vorgetragen, den ich genießen konnte, ohne daran zu glauben. Die rituellen Wiederholungen bei NA waren stumpf und schlampig vorgetragen, ohne Sinn für Stimmung. Die meisten Menschen hätte ich auf der Straße ohne Grusel passiert, sie hatten wohl schon länger nichts genommen, nur einer hatte diese rötlich aufgedunsenen Hände, die ich als Merkmal für Drogenkonsum werte, jedes Mal, wenn ich ein Kleingeld hineinlegte, waren mir diese Hände aufgefallen, aber ich wusste nicht, welche Droge solche Hände hervorbrachte, vielleicht einfach Alkohol. Ein Mann, der mir schräg gegenübersaß, hatte ein hohläugiges Gesicht, ein Tier, das sich an den Käfig gewöhnt hat, alle wirkten unnötig klein und geduckt. Kein Wunder, wenn sie sich ständig selbst mit ihrem Konsum identifizierten, als sei das der Kern ihres Seins, süchtig. Ich konnte dieser Praxis nichts abgewinnen, wie soll man sich von etwas befreien können, wenn man es mit jedem Satz heraufbeschwört? Es ergab keinen Sinn für mich. Enno und ich saßen in unserer Blase und hielten Händchen. Als eine Frau aus einem Paragraphen vorlas, dass das Prinzip über den Menschen ginge, spürte ich ihn zucken. Es verstieß gegen die Grundlagen seines Wertesystems. Ich hatte die ganze Zeit über Lust, ihm eine Liebeserklärung zu machen.

 

Später beim Essen blieb nur eine Aussage, die ich positiv anmerken konnte: nur für heute. Es machte mich traurig. Es war vollkommen unvorstellbar für mich, dass derlei Treffen ihn darin unterstützen könnten, ein Leben ohne Drogen zu führen. Es war der Geist solcher Treffen in unserer Gesellschaft, die ihn in das Leben mit Drogen geführt hatten.



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Kommentare zu diesem Text

Brot (39)
(22.01.24, 15:21)
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 AchterZwerg meinte dazu am 22.01.24 um 18:19:
Na ja,
es gibt  noch die sog. Konfrontationstherapie, oft geht es ja bei Süchtigen um Angst.
Oder die Null-Drogen-Existenz (kein Kaffee, kein Tee, kein Nix).
Nicht weniger erfolgreich als andere Therapien.
Ingesamt kann man sagen: 35 % sind drin, egal worauf du setzt. 
C. G. Jung hat mal gesagt: "Nehmen Sie Gott" (als Ersatz) - funktioniert bestimmt auch.

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