KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 06. Juli 2020, 20:48
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Kindheit als Heimat?

727. Kolumne

Kindheit als Heimat. Das ist ein Aspekt, den ich auch so empfinde. Das werden viele Menschen in den mittleren Jahren nicht oder nicht so stark fühlen. Die Kindheit ist das, was uns bleibt - aber auch das, was für so manche eben keine Heimat sein konnte, weil sie eine harte, schwere Kindheit hatten, von der sie sich eventuell sogar befreien mussten. Auch wir, die Kindheit als Heimat empfanden, hatten die Aufgabe, als wir erwachsen wurden, unsere Kindheit zu überwinden oder umzuformen. Orte und Gegenstände können verloren gehen, auch Heimat. Ich kann meine in mancher Hinsicht wunderbare Kindheit wie einen Schatz hüten, ja sie wärmt mich bis heute - aber nur deswegen, weil sie Wurzeln hatte für mein späteres Leben - insbesondere Bücher, Literatur, Theater, Musik, Kultur und Geschichte ... und so ist mir Heimat gewachsen in der Sprache, im Sprechen und Schreiben, dann auch im Lehrerberuf ... und ich frage mich, ob ich selbst mir Heimat sein kann samt Kindheit, Sprache, Charakter, samt dem was ich schuf, samt Familie also, Ehe und wieder Ehe nach dem Tod meiner Frau - also meine Identität als Heimat? Schwierig. Teils ja. Teils bin ich aber nicht mehr der, der ich mal war.

Vater und Mutter als Heimat – sie schwinden immer mehr, mein Vater ist seit zwölf Jahren tot, und in ihrem allerletzten Lebensabschnitt entfremdet sich meine Mutter mir und sich selbst, sie ist nicht mehr die Mutter meiner Erinnerung.
Die Natur - die Lindenbäume in der Straße, in der ich aufwuchs, das Saaleufer, wo ich spielte, die Straßenbahn, der Marktplatz mit den fünf Türmen ... auch das verweht allmählich, längst wurde mir Bonn zur Heimat, und es kamen auch andere Orte in meinem Leben dazwischen - und so ist meine Heimat eher ein überwiegend gesamtdeutsches Patchwork von Orten und Lebensphasen, worin das was ich eben noch als Identität empfand, sich verläuft und zerfließt. Und dennoch bleibt ein Kern. Aber wenn ich sehe, wie meine alte Mutter vor drei Jahren verlor, was ich jetzt als mein Zuhause empfinde (und das ist zu einem guten Teil nun meine Heimat geworden, früher war die Welt viel weiter ...), dann löst sich der Heimatbegriff auf, je mehr ich darüber nachdenke.

Andererseits: Ich empfinde die Mutationen und das Verblassen meiner Heimatgefühle und Heimatvorstellungen nicht als Verlustschmerz. Ich habe meine Kindheit behalten, obwohl ich sie verlor. Ich habe sie mir anverwandelt, ich habe sie dem anverwandelt, der ich vor Jahren war und der ich jetzt bin. Das ist nicht mehr ganz meine Kindheit – und meine Kindheit ist nicht mehr ganz –, aber sie ist noch da, auch in Fragmenten von Gefühlen. Und wenn ich darüber nachdenke, bin ich ein Archäologe meiner Kindheit, ein Archäologe auch meines ganzen weiteren Lebens, wenn ich zurück denke. Ich spüre keine Entfremdung, wenn ich erkenne, dass ich das nicht mehr bin, der ich mal war. Ich sehe einen Faden, der alle meine Lebensstücke zu einem Zyklus vereint, und mir ist bewusst, dass mein Faden teils fiktiv ist, ein Narrativ, eine Erzählung, die ich mir selbst erzähle und in einigen Texten anderen auftische, teils mit konstruktiven Lügen, ein moralisch gut geflunkertes Gesamtlebenskunstwerk ... ja, manchmal finde ich mich in der vorsichtigen, sanften Selbstironisierung besser wieder als in einer Rechtfertigung meines Lebens, das zu brüchig und zu fehlerhaft war, zu beeinflusst und zu irrläuferisch, als dass ich selbst an das glauben könnte, was ich von mir in Marmorbuchstaben meißele.

Ich sehe nur eine Ausnahme, das ist meine Großmutter, Mama Louise, real und fiktiv, ich finde mich in ihrer Liebe zu mir, die alle Liebe überbot, die mir meine Mutter gab und mein Vater, der aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, als ich neun Jahre alt war. Mama Louise, die mir Thomas Manns ZAUBERBERG schenkte mit den Worten, die sie vorn ins Buch schrieb: „Meinem lieben Enkel Ulrich Bergmann zur Erinnerung an den letzten Aufsatz der Schulzeit über Gedanken zum Zauberberg. Möge Dir das Interesse an geistiger Arbeit erhalten bleiben, damit Du weiter aufbauen kannst für Deine Zukunft, zu Deiner Freude an der Journalistik und an allem, was Dich nur fördern kann. Mai 1964 Deine Großmutti - Gaben sind ein Geschenk Gottes. Sie verpflichten.“

Wenn ich nach meiner Heimat suche, so suche ich mich immer selbst. Ich finde mich, je mehr ich mich loslasse, je mehr ich aufgebe, mich in einem bestimmten Bild zu sehen. Ich finde mich im gegenwärtigen Augenblick, beim Schreiben, im Reden, im Handeln, im Lieben, im Einschlafen ...

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 unangepasste (08.08.20)
Das gefällt mir außerordentlich gut.

 Bergmann meinte dazu am 09.08.20:
Liebe Sigune,
freut mich natürlich sehr.
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Schön, dich mal wiedergetroffen zu haben!
Noch schöner, dass du schon bei unserem nächsten Projekt dabei bist.
Herzlichst: Ulrich

 Thomas-Wiefelhaus (11.12.20)
Ich finde es wichtig, dass es wenigstens ein Stück Kindheit gibt, das man "glücklich" oder "Heimat" nennen kann! An das man sich erinnern kann, wenn es mal ganz anders kommt. Ich habe dieses Glück, im Gegensatz zu anderen! -- Und hätte das Ausgeliefertsein wohl viel schwerer überstanden, wenn es nicht auch schöne Zeiten gegeben hätte.

Ich bin in Friedenszeiten geboren. Was treibt Erwachsene (Menschen)dazu schwachen Kindern ihr Glück zu rauben?
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