Eden 1

Kurzgeschichte zum Thema Orte

von  RainerMScholz

Es war eine jämmerliche, verregnete kleine Stadt, grau in grau, die ihre unsympathische, latent bösartige Aura aus dem feuchten Asphalt der Straßen schwitzte. Die Dämmerung war gerade über den rußgeschwärzten Giebeldächern hereingebrochen, als das gelbe Taxi vor dem Hotel 'Eden 1' hielt und Stefan Pax vor dem Portal des verwahrlosten geduckten Gebäudes entließ. Er ging durch ein angelehntes schmiedeeisernes, mit französischen Lilien bewehrtes Tor zur Eingangstreppe hinauf, ließ seinen Handkoffer an der Rezeption auf den abgewetzten marmornen Boden gleiten und klingelte nach der Concierge.                             
"Stefan Pax."
"Gedenken sie lange zu bleiben, Herr Pax?"
"Einige Tage womöglich."
"Zimmer 313. Es liegt am Ende des Flurs. Sie müssen leider die Treppe nehmen, der Fahrstuhl ist defekt."
"Danke."
Stefan Pax nahm den klobigen Zimmerschlüssel entgegen und stieg die ausgetretene, sich in die oberen Etagen windende Holzdielentreppe hinauf. Das rostende Eisengeländer schien an einigen Stellen ausgebrochen zu sein, flößte wenig Vertrauen ein. In der dritten Etage führte ein langer schmaler Gang zu seinem Zimmer, so schmal, dass zwei Menschen kaum aneinander vorbeigehen konnten, ohne sich berühren zu müssen. Er schloss die Tür am Ende des Flurs auf: Ein durchgelegenes Stahlfederbett, ein Tisch, ein Schrank. Es war ein Zimmer wie in jedem heruntergekommenen Hotel in jeder beliebigen Stadt der Welt. Stefan Pax ging hinein, verschloss die Tür hinter sich, stellte den Koffer ab und schritt auf das Fenster zu, um hinauszusehen. Er kramte in seiner Jackentasche nach einer Zigarette, zündete sie an und sah auf die graue Straße hinab, die von blinkenden blauen und roten Neonlichtern bizarr erleuchtet wurde, um dann für Sekunden wieder in die Dunkelheit zurückzufallen. Er zog sich aus, wechselte sein Hemd, warf einen Blick den Flur entlang und zog die Tür hinter sich zu, um sich mit der geduckten, nächtlichen Stadt bekanntzumachen, und sich vielleicht in ihr zu verlieren.
Der Mann in der verwaschenen Uniform hinter dem Rezeptionstresen sah ihm gleichmütig hinterher, als der neue Gast das Gebäude bereits verlassen hatte.

Er saß an einer schmierigen, mit Glasrändern und Zigarettenasche übersäten Bar im Rotlichtviertel, das sich um den Bahnhof zusammenzog wie eine Python um die Ratte. Er hatte schon einige mehr oder weniger kalte Getränke hinter sich und bislang allen professionellen Angeboten der zwielichten Damen abwinkend widerstanden. Leise rotierten die Flügel des Deckenventilators und verwirbelten die verbrauchte rauchgeschwängerte Luft. Der Barmann schielte übellaunig in seine Richtung, als sich eine wasserstoffblondierte Frau hoch­hackig auf den Barhocker zwei Plätze neben ihm setzte. Sie war stark geschminkt, kirschrote Lippen, dunkler Lidschatten, sehr junges, doch trotz des Rouge bleiches Gesicht, hellgrünes Bustier, Minirock, knallgelb. Sie bestellte einen Whiskey auf Eis und sah zu Stefan hinüber. Sie war nichts Besonderes hier, keine übermäßig auffallende Erscheinung, aber sie hatte ein junges und unverbrauchtes Gesicht. Sie hätte jede sein können und keine.

Die Rezeption des Hotels war nicht mehr besetzt, und so sah er sich keinen indiskreten Fragen ausgesetzt, als Stefan Pax und die junge Frau durch die leere Eingangshalle des `Eden 1´ schritten.
In Zimmer 313 war es schwülwarm. Stefan Pax´ Koffer stand immer noch nahezu unberührt neben dem blanken Holztisch, der ledig­lich durch einen grüngläsernen Aschenbecher, in den eine Zigarette ausgedrückt worden war, mehr als fragwürdig geziert wurde. Stefan Pax und die Frau mit dem jungen Gesicht begannen sich wortlos zu entkleiden. Sie hatte feste, abstehende Brüste und einen nahezu jungenhaften, bleichen Körper, dem rote und blaue Schattierungen ein nichtwirkliches Eigenleben verliehen unter den indirekten Lichtreflexen der Straße. Leise, gedämpfte Geräusche drangen von der Stadt zu ihnen in das schäbige Hotelzimmer, graue und stumpfe Silhouetten einer kleinen, nichtssagenden Stadt, die überall auf der Welt hätte errichtet worden sein können, oder im Nirgendwo.
Sie legen sich auf das schmale knarrende Bett, und er beginnt ihren Körper mit den Händen zu erforschen. Lakonisch lächelt sie an die Zimmerdecke, die graue Wasserflecken verunstalten. Die Wände scheinen unter den Tapeten zu schwitzen in der plötzlichen Hitze der Nacht, sondern eine eigentümliche Atmosphäre bevorstehender Bedrohung und angestachelter Glut ab. Die Wände scheinen zu pulsieren, modrige Feuchtigkeit und aufgestachelte Lust auszustülpen; und blutige Schlünde.

Stefan Pax sieht auf seine Armbanduhr. Halb zehn. Die Sonne scheint durch einen wolkenverhangenen Himmel hindurch, also muss es Morgen sein. Er dreht sich mühsam auf die Seite und greift nach dem Zigarettenpäckchen, von dem er weiß, dass es zu Boden gefallen ist, zündet sich mit den Streichhölzern aus der Bar letzte Nacht eine Zigarette an, inhaliert tief und bläst den Rauch an die Zimmerdecke. Er fühlt die Frau neben sich, an seiner Seite, in das verschwitzte feuchte Laken eingehüllt. Der Rauch der Zigarette formt geisterhafte Schemen zwischen die verbrauchte Luft des Raumes, fremdartige Gesichtsfetzen, vegetabilische Fratzen entstehen und verfliegen wieder. Er dreht sich zu dem ruhenden Körper der Frau neben ihm im Bett um. Alles ist rot blutverschmiert. Entsetzt und zu Tode erschreckt springt Stefan Pax, als sei er ein Anderer, aus dem Bett, als stünde er mit einem Male neben sich. Das Herz rast und verkrampft sich, sein Blut pulsiert schmerzhaft pochend durch die Adern, die Venen verschließen sich unter der Adrenalinausschüttung, jeder Muskel ist gespannt und die Augen drohen aus den Höhlen zu springen vor angestrengtem, ungläubigem Starren. Dort liegt ein toter Frauenkörper. Das herabgeglittene blutfeuchte Laken entblößt eine Szene unaussprechlichen Grauens. Ihr Leichnam ist enthauptet, ihr Körper ist wie von Äxten zerfleischt, der Brustkorb weit geöffnet. Ihr Kopf liegt an dem geöffneten Fenster zur Stadt und starrt ihn aus schrecklich geweiteten Augen heraus an, die Haare wehen leicht im Luftzug. Ihre Körperorgane scheinen über das Zimmer verteilt worden zu sein. Überall kleben Blut und Reste von Eingeweiden, am Schrank, an den Wänden. Auf dem Tisch liegt ihr herausgeschnittenes Herz. Die Gliedmaßen des zerfleischten Körpers sind grotesk verrenkt. Ihr rechter Arm fehlt, ist aus der Schulter gerissen. Ihre Hüftgelenke müssen zerbrochen sein, denn anders ließe sich die obszön abgeschrägte Stellung ihrer Oberschenkel nicht erklären, die widernatürlich links und rechts ihres geöffneten Torsos drapiert worden sind.

Zitternd steckt sich Stefan Pax eine weitere Zigarette an aus dem Päckchen, dass am Boden halb in einer dunklen Lache liegt. Er kann sich an nichts erinnern, an nichts, was letzte Nacht geschehen sein muss. Diese Nacht scheint völlig gelöscht aus seinem Gedächtnis. Er kann sich an nichts erinnern und ein lautloser Heulkrampf schüttelt ihn. Sein Körper zittert unkontrolliert, seine nicht existenten, nie gewesen scheinenden Erinnerungen martern ihn wie Schatten einer anderen Welt. Sie ist tot. Die eben noch atmete, hat aufgehört zu sein. Abgeschlachtet aus unerfindlichen Motiven. Weshalb ist diese Frau gestorben. Und wieso auf diese Weise. Axiome, Parabeln, Synapsenblitze, die dem Ende eines schwarzen Tunnels entgegenfiebern, an dessen Ende kein Licht ist und die nur um sich selbst zu kreisen vermögen. Er weiß es nicht. Er weiß nicht, was passiert sein könnte. Diese Nacht. Nur der zerfetzte, ausgeschlachtete Leichnam einer jungen Frau, die im Bett in Zimmer 313 im Hotel 'Eden 1' neben ihm gelegen hat. Hellgrün und gelb.

Er nahm seinen Koffer von den Dielenbrettern, schloss die Tür fest hinter sich ab. Er ging den langen schmalen Flur entlang über den ausgetretenen Läufer, dessen Farben und Muster längst verblichen sind. Niemand begegnete ihm. Die Stufen der Treppe winden sich in einer nachgeahmten Spirale bis zur Eingangshalle des Hotels. Stefan Pax hielt sich mit einer Hand an dem unsicheren Geländer fest, als er endlich unten angekommen war.
"Hatten sie eine angenehme Nacht?", fragte das pockennarbige Gesicht des Mannes uninteressiert jovial hinter der Theke der Rezeption, als er den Schlüssel entgegennahm.
"Ja, danke. Ich möchte abreisen."
"Sehr wohl."
"Was bekommen sie?"
"Siebzig, bitte."
Er gab ihm hundert.
"Stimmt so, vielen Dank."
"Wir danken auch. Auf Wiedersehen, Herr Pax."
"Auf Wiedersehen."

Stefan Pax ging die mit totem Laub bedeckten Stufen zum Eingang des Hotels hinab und betrat die graue, nach heißem Teer riechende Straße.
Er wird sich eine neue Stadt suchen. Eine kleine Stadt, versteckt und unscheinbar. Eine Stadt, wie sie überall existieren könnte.
Er kehrte 'Eden 1' den Rücken und ging die staubige Straße hinunter.




© Rainer M. Scholz

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