Der Tod des Königs

Märchen

von  Sanchina

Als der junge König sterben musste, war es sein Wunsch, auf dem letzten Weg von den Men­schen begleitet zu werden, die ihn glaubwürdig und überzeugend liebten als den, der auch er im Sterben nur war: den Mensch. Doch weil er ein König war, wurde er von sehr vielen Menschen geliebt: Drei Menschen waren bei ihm, als der König starb.

Über den Ort und den Zeitpunkt seines Todes hatte der junge König verfügt: er wünschte nach einer noch einmal durchwachten letzten Nacht unter der aufsteigenden Morgensonne im Tal der Erkenntnis in das ewige Leben zu gehen.

Am Vorabend des Todes des Königs zogen sie hin: Die den Sohn liebende Königinmutter schritt voraus. Ihr folgte der den Landesvater liebende Freund. Das Schlußlicht bildete die den König liebende Frau.

Der Freund und die Frau trugen die Bahre, auf der der sterbende König lag. Sein vorwärts ge­richteter Blick schaute den Rücken der voranschreitenden Mutter und den des Freunds. Doch blickte der König am Vorabend seines Todes am tiefsten in das Gesicht der geliebten Frau, die, ihm als einzige folgend, seinem sterbenden Haupt am nächsten und seinem geistigen Antlitz am engsten verbunden war.

Angekommen im Tal der Erkenntnis setzten der Freund und die Frau die Königsbahre am Ufer des Flusses des Geistes ab. In den Auen stieg neblige Feuchtigkeit auf. Die Sterne erschienen am Firmament. Der Mond stand still und klar als Mittler in der Unendlichkeit, um das Wiederaufgehen der Sonne vorzubereiten in dieser Nacht.

Es war keine stille, doch eine heilige Nacht. Das Raunen der Natur war zu hören, die Stimmen der Tiere, das Rauschen des Blattwerks im Wind und das Geseufz des ganzen Geästes im Wald. Es war eine Nacht, die vom Leben der Natur vollkommen erfüllt war.

Der König sprach: „Einst sprach Gott, es werde Licht. Wenn ich morgen sterben werde, sehe ich jenes Licht, denn wir alle sterben in dieses Es-Werde hinein, aus dem wir gekommen sind. Es wird sehr schön sein, ihr werdet es sehen, weil ich es euch zeigen werde. Habt keine Angst.“

In der Nacht erschienen die Engel des Herrn. Sie tummelten sich in den Auen und bevölkerten den umliegenden Wald. Die Gnomen und Elfen waren alle wieder da und sahen, wie immer, bezaubernd aus. Sie sind die Kinder Gottes und ähneln ihm: sie sind gesichtslos und ohne Gestalt.

Der König sprach: Du, Königinmutter, bist eine lebenserfahrene und am Leid gereifte Dame. Das Regierungsgeschäft gehört unbedingt in deine Hände. Bitte übernimm ab morgen mein Land.“ Da sagte die Königinmutter: „Gebliebter Sohn, das möchte ich nicht, denn ich bin nur eine Frau und bei weitem nicht stark genug, diese große Verantwortung des Regierens allein zu tragen. Übergib dein Amt doch deinem Freund.“

Darauf der König sprach: „Du, des Königs vertrautester Freund, bist ein lebenserfahrener und  gereifter Mann. Das Regierungsgeschäft ist in deine Hände richtig gelegt. Bitte übernimm ab morgen mein Land.“ Da antwortete der Freund: „Könntest du mir verzeihen, wenn alles misslingt? Ich fühle mich nicht stark genug, das weiterzutragen, was du getan hast. Ich bin doch nur ein einfacher Mann. Ich bin viel schwächer als deine Mutter. Übergib dein Amt doch deiner jungen, klugen, dich liebenden Frau, sie kennt dich am besten.“

Da sprach der König: „Du, meine Geliebte, durch mich hast du schon in jungen Jahren das Le­ben in seiner Fülle erfahren und bist an der Liebe eines Königs gereift. Bitte übernimm du ab morgen die Regierung über unser Land.“ Da sagte die junge Frau des sterbenden Königs: „Geliebter, ich trage die Leibesfrucht unserer unsterblichen Liebe in mir. Ich brauche all meine Kraft, das Kind zu gebären und großzuziehen. Bitte übergib dein Amt doch deinem ganzen Volk. Es liebt dich und es ist einig und stark. In seinen vereinten Händen ist dein Erbe bestens aufgehoben.“

Da sprach der König: „Du hast ja so recht. Das Volk kann sich selber regieren, denn es ist stark, einsichtig und ausgewogen. Ja, es kann sich selber regieren. Es ist in sich und aus sich heraus befähigt und vom Vater berufen, das Amt selbst in die Hände zu nehmen. Geht hin, meine liebe Mutter, mein lieber Freund, meine geliebte Frau und verkündet: das Volk möge den Mann zum neuen König wählen, den es am meisten liebt. “

So kam es, dass der letzte König in seiner Todesnacht die Idee der Demokratie erfand. Er starb in dem Bewusstsein, die weiseste Entscheidung seines Lebens getroffen zu haben.

Seine Frau legte ihr Ohr auf seine Brust und horchte dem Schlag seines sterbenden Herzens. Als es zum letztem Mal schlug, lauschte sie weiter, bis das Echo im All ausklang. Sie fühlte, wie tief sie ihn liebte. Innigste Verbundenheit einte Tod und Zärtlichkeit. Als der junge König die Lippen schloss, vernahm seine Frau das Gotteswort, denn sie trug sein Kind in sich.

Als die Morgensonne aufging, weiteten sich die Augen des Königs im hellsten Licht und erlo­schen. Seine Mutter, sein Freund und seine Frau begruben seinen Leib am Ufer des Flusses und setzten ihm keinen Grabstein, denn das wollte er nicht.

So kam es, dass die Demokratie keinen Grundstein bekam. Deshalb suchen wir vergeblich nach ihrem Sinn und können sie nicht handhaben. Vielleicht haben wir das Tal der Erkenntnis vieltausend­mal schon durchwandert. Doch wir finden das Grab des letzten liebesfähigen Herrn nicht mehr und kehren stets unerleuchtet zurück.

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Kommentare zu diesem Text

SigrunAl-Badri (52)
(07.12.10)
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 AZU20 (07.12.10)
Sehr eindrucksvoll geschrieben und so wahr. Es ist also viel mehr als nur ein Märchen. LG
Luefi (37)
(07.12.10)
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steyk (57)
(08.12.10)
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